Weit entfernt vom Himmel

Für seine Nonnengeschichte „The Magdalene Sisters“ erhält Peter Mullan den Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen von Venedig. Die katholische Kirche hat bereits Protest angemeldet. Außerdem boomen Wahn und Krankheit im Weltkino

Will man ihre Zuckungen, ihre verdrehten Augen wirklich sehen? Das Streben nach körperlicher Perfektion schafft sich eine Schattenseite

von CRISTINA NORD

Im vorvergangenen Sommer wollte Peter Mullan in der Tageszeitung The Irish Independent eine Anzeige schalten. Der schottische Schauspieler und Regisseur bereitete zu diesem Zeitpunkt die Dreharbeiten von „The Magdalene Sisters“ vor, einem Spielfilm über einen Magdalenenkonvent. Es handelt sich dabei um von katholischen Nonnen geführte Anstalten, in die junge Frauen eingewiesen und in der sie zur Arbeit gezwungen wurden, ohne dass sie sich justiziabler Vergehen schuldig gemacht hätten (siehe taz vom 31. August). Die letzte dieser Anstalten existierte bis vor wenigen Jahren. Zu Recherchezwecken suchte Mullan nun nach Frauen, die in einen Magdalenenkonvent eingewiesen worden waren. Der Text der Anzeige kombinierte die Wörter „survivor“ („Überlebender“) und „Magdalene asylum“. Die Zeitung weigerte sich, ihn zu drucken.

Mullan erzählte diese Episode während der Pressekonferenz, nachdem „The Magdalene Sisters“ im Wettbewerb der Filmbiennale gezeigt worden war. Obwohl er Gelder von der irischen Filmförderung zur Verfügung gestellt bekommen habe, habe er lieber in Schottland gedreht, aus Furcht vor Sabotageakten. Darüber hinaus fand er starke Worte für einen Fundamentalismus, den man in Europa für ausgestorben halten möchte: In ihrer Haltung gegenüber jungen Frauen sei die katholische Kirche Irlands den Taliban verwandt. Sie teile dieselbe Paranoia, die wiederum dieselben Formen von Unterdrückung bedinge. Es nimmt nicht wunder, dass dieser Frontalangriff die katholische Kirche auf den Plan rief. In der Regionalzeitung Il Gazzettino etwa wurde der Rezension von „The Magdalene Sisters“ sicherheitshalber ein Artikel zur Seite gestellt, in dem eine Schwester den Film als „verleumderisch“ bezeichnete und ein anderer Würdenträger den Vergleich mit den Taliban zurückwies. Schließlich habe sich die katholische Kirche nie an heidnischen Monumenten vergriffen, während die Taliban buddhistische Kultstätten zerstört haben.

Die Jury der 59. Mostra internazionale d’arte cinematografica – den Vorsitz hatte die chinesische Schauspielerin Gong Li inne – ließ sich davon nicht schrecken und verlieh in ihrer Abschlusszeremonie am Sonntagabend den Goldenen Löwen an „The Magdalene Sisters“. Eine erwartbare Entscheidung war das, insofern Mullans Film in Kritikerspiegeln und -gesprächen immer wieder als Favorit gehandelt wurde. Sein Verdienst (und vielleicht auch sein Problem) ist, dass er eine klare Filmsprache mit einer klaren Haltung vereint. Dabei liefert er die Figuren der Schwestern und Priester nicht aus, indem er sie statt als Schurken als Zahnräder in einem großen Repressionsapparat anlegt. Von diesem Apparat profitieren alle, mit Ausnahme der inhaftierten Frauen. Mit denen schafft sich die Gesellschaft ein stigmatisiertes Anderes, das sie nach Lust und Laune ausnutzen kann: als Arbeits- und als sexuellen Körper. Mullan zeigt diese Strukturen, ohne dass er je in den freudigen Sadismus entsprechender B-Movies oder in die Emotionaliät Hollywoods verfiele. Er findet überzeugende Bilder, arbeitet mit überzeugenden Schauspielerinnen, kann dem abgeschlossenen Schauplatz, den Räumen der Anstalt, viel abgewinnen, und all das tut er in politischer Hinsicht im moment juste. Denn die katholische Kirche sieht sich zurzeit dazu gezwungen, sich zu den bis dato vertuschten Verbrechen einiger ihrer Repräsentanten zu verhalten.

Trotzdem bleibt ein Zweifel: Inszeniert Mullan zu viel der Ohnmacht? Sind die Fronten zu klar? Zwingt er sein Publikum, indem er einen Überschuss an Missbrauch inszeniert, in eine Erstarrung, die vorm Verstand nicht Halt macht? Ohne die Entscheidung der Jury träten die Zweifel in den Hintergrund, nun drängeln sie sich nach vorn wie ungeduldige Journalisten in den Warteschlangen vor der Sala Palagalileo. Wäre schon eine Entscheidung für Todd Haynes’ Melodram „Far from Heaven“ dem Kino als Kunstform würdiger gewesen, so gilt dies für Takeshi Kitanos „Dolls“ umso mehr. Der japanische Regisseur schafft es, sich von allem zu befreien, was zur Masche werden könnte in seinem Oeuvre. Ihm gelingt es, eine Geschichte von großer Präzision zu erzählen, er entlockt den Bildern von Kirschblüte, Ahornblättern und verschneiter Landschaft eben keine Poesie, sondern Klarheit, und seinem Sujet, der vergeblichen Liebe, trotzt er keine Dramatisierung ab, sondern Ruhe. Hätte er da nicht den Preis verdient? Und das umso mehr, als er sich nicht mit der richtigen Botschaft absichert, wie Mullan es tut.

„Dolls“ ging leer aus, vielleicht auch deswegen, weil Kitano schon einmal ausgezeichnet wurde in Venedig: 1997 für „Hana-Bi“ („Feuerblume“). Doch sein Film zeigte paradigmatisch, dass das asiatische Kino, von Festivalleiter Moritz de Hadeln vor dem Auftakt der Mostra noch als „esoterisch“ gescholten, die visuelle Kraft und den Wagemut hat, die dem europäischen Kino oft fehlen. In der Vergabe anderer Preise schlug sich das durchaus nieder: Den Hauptpreis in der Controcorrente-Reihe erhielt der chinesische Film „Xiao cheng zhi chun“ („Frühling in einer kleinen Stadt“) von Tian Zhuang Zhuang, und der Regiepreis derselben Reihe ging an den japanischen Filmemacher Shinya Tsukamoto für „Rokugatsu no hebi“ („Eine Schlange im Juni“). Im Wettbewerb erhielt der koreanische Regisseur Lee Chang-dong für „Oasis“ den Spezialpreis für die beste Regie. Die Hauptdarstellerin Moon So-ri bekam den Marcello-Mastroianni-Preis für ihre Schauspielleistung. Zu Recht: „Oasis“, als zweitletzter Film in Wettbewerb gezeigt, schaffte es, die müd gewordenen Kritikeraugen ein letztes Mal zu öffnen.

Nicht dass „Oasis“ ganz unproblematisch wäre, doch in zweierlei Hinsicht erweist er sich als risikobereit. Zum einen, weil der eine der beiden Protagonisten, der junge Tunichtgut Jong-du (Sol Kyung-gu), als ambivalente Figur angelegt ist. Man mag sich nicht mit ihm anfreunden, egal ob er schmatzend ein riesiges Stück Tofu isst, seiner Familie auf die Nerven geht oder die zweite Protagonistin, der an einer Gehirnlähmung leidende Gong-ju (Moon So-ri), zu vergewaltigen versucht. Jong-du ist das Gegenteil einer Identifikationsfigur, und damit einen Film zu bestreiten, stellt eine Herausforderung dar. Das zweite Wagnis ist die Figur Gong-jus: „Oasis“ beschönigt ihre Behinderung in keinem Augenblick und macht sie doch auch nicht zur Freakshow. Damit stößt der Film den Zuschauer mitten hinein in eine Ambivalenz: Will man ihre Zuckungen, ihre verdrehten Augen, ihre unkontrollierten Bewegungen sehen? Möchte man nicht viel lieber den Blick abwenden? Darin wäre man der Familie Jong-dus durchaus nahe, die mit Entsetzen reagiert, als der junge Mann die junge Frau zu einem Geburtstagsfest mitbringt. Hinzu kommt, dass man oft nicht weiß, was in Gong-ju vorgeht, weil man ihre Sprache – die ihres Körpers, die ihrer Wörter – nicht begreift. Herausragend gerät vor diesem Hintergrund die Szene, in der die beiden miteinander schlafen, nachdem sie ihn darum gebeten hat. Ob es Hingabe ist oder Abwehr, was man sieht, bleibt in der Schwebe. Danach gibt es keine Wörter mehr, die irgendetwas klärten, nurmehr das Missverständnis und den Umstand, dass den Figuren das Kommunizieren verwehrt bleibt.

Es hat immer etwas von einem Gewaltakt, einem Festival Tendenzen zuzuschreiben. Daher muss es eine vorsichtige Äußerung bleiben, wenn man für die diesjährige Mostra zwei inhaltliche Konstanten ausmacht. Zum einen ging es häufig um Einschließungsmilieus, zum anderen um Krankheit und Wahn. Jenes in „Road to Perdition“ genauso wie in einem iranischen Film von Manijeh Hekmat, „Zendan-e Zanan“ („Frauengefängnis“), in Kathryn Bigelows U-Boot-Drama „K-19“ genauso wie in Mullans „The Magdalene Sisters“. Dieses in vielen asiatischen Filmen – in „Oasis“, in „Dolls“, im taiwanesischen Wettbewerbsbeitrag „Meili Shiguang“ („Die beste aller Zeiten“) von Chang Tso-chi –, aber auch in dem außer Konkurrenz gezeigten Krimi „Blood Work“ von Clint Eastwood, in dem die Hauptfigur nach einem schweren Herzinfarkt mit einem neuen Herz weiterlebt, oder in Stephen Frears gut gemeintem „Dirty Pretty Things“, in dem ein nigerianischer Flüchtling in London einem Organhandel auf die Spur kommt. Das Streben nach köperlicher Perfektion und genetischer Optimierung schafft sich offensichtlich im Imaginären eine Schattenseite. Während sich die Funktionalität der Körper in öffentlichen Debatten als Ziel durchzusetzen beginnt, erinnert die Vorstellungskraft beharrlich an deren Dysfunktionen.

Und wie geht es weiter mit der Mostra? Ob Moritz de Hadeln im kommenden Jahr erneut als Festivalleiter antritt, wird zurzeit verhandelt. Dass die rechte Regierung, nachdem der bisherige Festivalchef Alberto Barbera geschasst worden ist, Einfluss nimmt, lässt sich nicht behaupten. Sicherlich, im Programm lief allerlei Gefälliges, Poetisches, Märchenhaftes, Erzählkino an der Grenze zum Kitsch. Dokumentarfilme, die mit unaufgeregtem Blick auf den Zustand der Welt geschaut hätten, fehlten. Doch zugleich zeigte die Mostra mit der Kompilation „11’ 09’’ 01 – September 11“ einen kontroversen Film, der in seiner Polyphonie jeder patriotisch eingefärbten Beschreibung der Anschläge zuwiderläuft. Und ob es Berlusconi gefällt, dass die Auszeichnung für „The Magdalene Sisters“ bereits den Vatikan auf den Plan gerufen hat, muss bezweifelt werden. Dies als Linie, als Haltung zu beschreiben, dazu indes war die 59. Mostra internazionale d’arte cinematografica zu disparat.