Viele neue Bärenmarken

„Die viel zu große Stadt, die für mich nichts hat“: Dieser Tage sind Platten von vier Berliner Bands erschienen, von Mia, Quarks, 2raumwohnung und Paula. Doch verbindet sie kein gemeinsamer Sound von Berlin, sondern Nostalgie und der Wille zum Pop

Diesem Entwurf ist die Ironie der Achtziger-und der Zynismus der Neunzigerjahre fremd

von THOMAS WINKLER

Berlin schwitzt sich durch einen schönen Sommertag. In einem kleinen Restaurant irgendwo in Mitte ist es früher Nachmittag und angenehm kühl und ziemlich leer und viel, viel Raum, den es zu füllen gilt mit Apfelschorle. Durch die weit geöffneten Fenster dringt das sanfte Rauschen der Großstadt. Manchmal, eher selten brummt ein Auto vorbei und unterbricht vorsichtig die faule Stimmung aus Gläserklingen und sich in Trägheit verlierendem Gemurmel. Ist das der Sound von Berlin?

„So was ist mir zu doof“, sagt Jovanka von Willsdorf von der anderen Seite des Restauranttischs. Sie sagt aber auch: „Ich kann nicht behaupten, wir hätten dieselbe Platte gemacht, wenn wir in Timbuktu leben würden.“ Nein, Quarks, das Elektropop-Duo, das von Willsdorf zusammen mit Niels Lorenz seit bald zehn Jahren betreibt, lebt in Berlin. Nun könnte man, wenn man wollte, vielleicht sagen, dass die Quarks auf ihrem neuen, dritten Album „Triggermehappy“ die wachsende Internationalität der Hauptstadt reflektieren, weil sie zum ersten Mal auch auf Englisch singen. Man könnte behaupten, ihr neuer, fast schon wollüstiger Popsound, der zum Teil die eher privatistischen Skizzen früherer Tage abgelöst hat, will aus dem Wohnzimmer endlich hinaus in die große, weite Welt. Man könnte meinen: Berlin, das ist Pop, endlich. Man könnte aber auch sagen, was ihr Partner Lorenz sagt: „Mich nervt Berlin momentan eher.“

Berlin nervt nämlich auch. „Im Club Berlin außer Rand und Band / Wollt ihr uns seh’n? Wir spiel’n euch an die Wand“, schallt es dann penetrant aus dem Radio in die Haushalte der Hauptstadt. „Alles Neu“ heißt der Song, die Band nennt sich Mia, die Sängerin trägt das Pseudonym Mieze, und auf dem Cover prangt der Berliner Bär. Der Hype um das unverschämt junge Quintett, das genauso unverschämt alle denkbaren Berlinklischees aus drei Jahrzehnten bedient, ist nicht mehr zu überhören und ragte kürzlich gar bis in die seriösen ARD-Tagesthemen: Kieck mal an, in Berlin ist wieder was los. „Keine Zeit zu verlier’n / Ich kann nicht länger warten“, tönen Mia und reaktivieren auf ihrem Debütalbum „Hieb & stichfest“ das Punkethos vom Erstmal-Machen und dann gucken, wem man auf die Füße getreten ist.

Was sich vor ziemlich exakt einem Vierteljahrhundert noch nach Revolte anfühlte, hört sich zwar immer noch ebenso großartig wie großkotzig an, wird heute allerdings vornehmlich als Marketingstrategie wahrgenommen. Schnoddrige Respektlosigkeit im Umgang mit den Medien, ein Styling zwischen übernächtigt und verlebt, das selbst gewählte Motto „Schön, wild und wütend“, das Nachspielen eines Songs wie „Heroes“ des Teilzeit-Westberliners David Bowie, die rausgewachsene, wasserstoffblond gefärbte Mähne von Mieze – all das sind nur weitere Indizien, die sich ins aktuelle Achtzigerjahre-Revival fügen. Mancher, der heute wieder mittendrin ist, hat daran noch sehr persönliche Erinnerungen. Auf die Frage, woran sie denken muss, wenn sie Mia hört, antwortet Inga Humpe sehr trocken und ohne Zögern: „Meine Schwester.“

Die heißt Annette und sang zu den gloriosen Tagen des New Wave, als die Neue Deutsche Welle noch nicht zur Kindergartenunterhaltung verkommen war, bei den Westberliner Helden Ideal die heute wieder sehr aktuelle Hymne „Ich steh auf Berlin“. Inga Humpe selbst spielte damals bei den Neonbabies, trällerte dann mit ihrer Schwester zusammen den NDW-Schlager „Codo“ und entdeckte schließlich die elektronische Musikerzeugung. Sie hat aus nächster Nähe die frühen Tage von Punk erlebt und die Aufbruchstimmung, als Techno in Berlin den Untergrund regierte. Und „jetzt ist es vielleicht auch wieder so“.

Heute ist Humpe wieder erfolgreich mit 2raumwohnung. Das Duo aus ihr und ihrem Lebensgefährten Tommi Eckart versucht, die Sprachlosigkeit von Techno zu überwinden und das rein körperliche Glücksversprechen des Dancefloor mit Inhalten zu füllen, auch wenn diese selten über kurze Momentaufnahmen hinausgehen. Kommerziell erfolgreich, verbinden sie Clubkultur und Popsong, diese Woche erscheint ihr zweites Album „in wirklich“.

Doch der aktuelle mediale Fokus auf Berliner Bands gründet sich bislang nicht auf deren durchschlagendem kommerziellem Erfolg, denn der steht bislang noch aus. Eher scheint eine in Feuilleton und Journaille, aber auch bei einem unbestimmten Publikum lauernde Sehnsucht befriedigt werden zu wollen. So wie die Republik vor Jahren noch auf der Suche nach konstituierender Literatur war, geht nun die Hoffnung durchs Land, aus der ehemals geteilten Stadt möge Musik kommen, die in Ost und West für gleichermaßen sinnstiftend befunden wird.

Eine Antwort, die die aktuellen Entwürfe geben: Nostalgie. Mia beleben ein geradezu klassisches Berlinbild wieder: Die sperrstundlose Mauerstadt der Achtzigerjahre, in der sich Hausbesetzer und Bundeswehrflüchtling niemals gute Nacht sagten. Doch das ist nicht das einzige altbekannte Motiv, das aktiviert wird: 2raumwohnung erinnern in Melodieführung – und natürlich auch mit ihrem Personal – an die Neue Deutsche Welle, während man in Jovanka von Willsdorf von den Quarks und ihrem Bekenntnis zum ungebrochenen, großen Gefühl mit etwas Fantasie durchaus die elektrifizierte kleine Schwester einer Zarah Leander sehen könnte. Paula schließlich, noch ein Berliner Pop-Duo, verweisen schon im Erscheinungsbild ihrer aktuellen Pressefotos an die große Zeit der UFA, wenn Elke Brauweiler unter welligen Haaren verträumt nach rechts oben blickt.

Ebenso hypeverdächtig, wenn womöglich auch nur einem Zufall geschuldet ist es, dass überproportional viele der Stimmen, die momentan aus Berlin kommen, von Frauen stammen. Diesen Eindruck verstärken Barbara Morgenstern, Laub, Peaches, Miss Kitten oder Rosenstolz. Ist der Sound von Berlin also weiblich, weil das popkulturelle Gedächtnis mit Berlin schon immer eher Marlene Dietrich, Christiane F., Nina Hagen, Hildegard Knef oder Nena assozierte? „Was werden Element of Crime da sagen?“, bemerkt von Willsdorf, „werden die jetzt weinen?“ Vielleicht. Vielleicht weinen sogar Die Ärzte, Rammstein und Seeed, das Jeans Team und Virginia Jetzt!. Tatsächlich aber macht die Häufung von Frauen, die sich trauen, einfach Pop zu machen, der in allen Farben schillert, einen signifikanten Unterschied zu allen anderen Szenen im Lande, konstruierten oder tatsächlich gewachsenen.

Die Versuche allerdings, Berlin deswegen eine einheitliches Szenegeflecht anzudichten, aus dem diese Interpreten entwachsen sind, bleiben zum Scheitern verurteilt. Das musste zuletzt der Radiosender Fritz erfahren, als er im vergangenen Jahr in kurzer Folge drei CDs unter dem Titel „Berlin macht Schule“ herausbrachte. Auf der ersten Folge fanden sich bereits 2raumwohnung und Paula und noch vieles mehr, was man unter Pop subsumieren konnte. Seitdem schicken auch andere Labels immer neue Berlin-Compilations auf den Markt. Doch vom eh schon dreist aus Hamburg abgekupferten Begriff Schule blieb nichts haften – bestenfalls der vorherrschende Eindruck, dass die Stadt zu groß und unübersichtlich ist, auch musikalisch, um sie unter einen griffigen Nenner zu bringen.

Die Versuche, Berlin eine einheitliche Szene anzudichten, sind gescheitert

Auch Bands wie Mia, Paula oder die Quarks sind mitunter musikalisch zu weit voneinander entfernt, als dass sie für einen gemeinsamen Klang stehen könnten. Aber, an den Mythos Berlin lässt sich problemlos andocken: Paulas neues Werk wird schlicht „Warum Berlin“ heißen und auf der ersten Single „Die Stadt“ wird Elke Brauweiler wie gewohnt engelsgleich singen über „Die viel zu große Stadt / Die nur für mich nichts hat“. Die Musikindustrie sieht das gewohnheitsmäßig ganz anders und hält den Sound von Berlin, ob es ihn nun gibt oder nicht, entschieden für kommerziell verwertbar. Denn „die Plattenfirmen denken nun mal so“, hat Niels Lorenz erkannt.

Von den großen Entertainmentkonzernen sind mit Sony und Universal in den letzten Monaten gleich zwei nach Berlin gezogen und haben prompt begonnen, das lokale Kreativpotenzial zu sondieren. Ihnen kommt die vermarktungstaugliche Schublade gerade recht, wenn sie sie nicht selbst lancieren. Und auch im Ausland wird Berlin langsam wieder zum Markenzeichen: Demnächst erscheint eine ältere Single von 2raumwohnung bei einem Londoner Label in einer Reihe, die bereits Peaches und Miss Kitten als Sound of Berlin zu verkaufen sucht.

Doch sucht man eine gemeinsame musikalische Eigenschaft dieses Sounds, dann ist es allenfalls der Schulterschluss zwischen Electronica und Pop-Pathos – egal ob er mit elektrischen Gitarren, flatterendem Sequenzer oder luftigen Melodien ergänzt wird. „Zwischen Club- und Popmusik ist so viel Platz“, sagt dazu Inga Humpe, „da könnte so viel passieren, aber da trauen sich noch viel zu wenige Leute dran.“ Während die letzten originalen Techno-Clubs schließen müssen, wandelt sich Berlin von der Hauptstadt sperriger Underground-Entwürfe nun zur bundesdeutschen Zentrale eines neuen Pop-Entwurfs, dem die Ironie der Achtziger- und der Zynismus der Neunzigerjahre fremd sind. Ob Mia oder Quarks, Paula oder 2raumwohnung, keine dieser Platten scheint abgefragt auf die Punkte des Coolness-Katalogs. Die Texte von Mia wirken vor allem naiv, 2raumwohnung bringen ganz ungebrochen Sehnsucht zum Klingen und träumen von „freier Liebe“. Und Jovanka von Willsdorf singt derweil Zeilen wie „Nur mein Herz bricht, wenn ich dich nicht seh, nur mein Herz bricht, und es tut nicht weh“. Dazu bersten diese Platten vor Melodien, die wenige Jahre früher noch manchem peinlich waren. „Wenn da großer Pop drin ist, dann wollen wir den auch wachsen lassen“, sagt von Willsdorf über ihre Musik, „für Zynismus bin ich nicht zuständig.“ Und Inga Humpe ergänzt: „Zynismus ist die Waffe der Gescheiterten. Die Gefahr kitschig zu werden, ist immer da. Andererseits: Weg mit der Unfehlbarkeit.“

Genau, weg damit. Weg mit abgesicherten Aussagen, weg mit abgeschotteten Pop-Diskursen. Her mit Liebe und Leid, her mit Bauch und Besinnlichkeit, mit Aufregung und Affekt, mit Empfingung und Euphorie, mit Seele und Sex, her mit Pop, wie er sein muss. Also her damit, zum Wowereit!, mit dem Sound von Berlin.

Quarks: „Triggermehappy“ (Home/Columbia/Sony); 2raumwohnung: „in wirklich“ (Goldrush/BMG); Mia: „Hieb & Stichfest“ (R.O.T./Columbia/Sony); Paula: „Warum Berlin“ (Home/Columbia/Sony)