Von Zepp-O-grammen und Himmels-Aalen

Uwe Bressem, Mail-Art-Künstler aus dem Wedding, findet ungewöhnliche Wege des Kultursponsorings. Dabei setzt er auf die Leidenschaft der Briefmarkensammler. Ganz neue Versandwege erfindet er für sie. Ausgestattet mit überbordender Fantasie hat der 42-Jährige damit sogar Erfolg

von WALTRAUD SCHWAB

Uwe Bressem denkt sich Wesen aus, die gut in „Alice im Wunderland“ vorkommen könnten: Menschenfische im Flug, explodierende Kaleidoskop-Schnecken, in ihren Schatten verliebte Zuckerdiebe, berühmte Vögel in Schuhen. Statt sie aufzuschreiben, malt er sie auf Briefmarken. Als Luftpostsendungen hofft er, dass sie fliegen. Mail-Art nennt sich das. „Ein Durchgeknallter? Ein Verrückter?“, wird er gefragt, obwohl nichts darauf hindeutet. „Enigmatiker“, antwortet er. „Mein Naturell: heiter und farbenfroh!“

Ein Erzähler ist Bressem nicht. Die Sprache ist zu langsam für seine Fabelwelt. Denn nicht nur gibt es Figuren, sondern auch die dazu passenden Abenteuer. Da sind verlorene Schätze, denen er in seinen Minibildern auf der Spur ist. Da sind Revolutionäre, die über Botschaften auf Briefmarken miteinander kommunizieren. Da sind Flugobjekte mit technischen Finessen, die beherrscht werden müssen, um Katastrophen zu vermeiden. Mit logistischem Gespür muss Bressem das alles so zusammenfügen, dass es Hand und Fuß hat, nicht auseinanderfällt, „nicht atomisiert“. Einfach ist das nicht. „Versuchen Sie mal, eine ganze Geschichte auf ein paar Quadratzentimeter zu malen.“

Mail-Art ist ein leiser Versuch, etwas mitzuteilen. Der Postweg trägt es in die Welt. Nicht ohne Risiko des Verlusts. Einmal angekommen, wird die eigenwillige Post zur Trophäe des Empfängers. Diese Kunst muss sich im Alltag bewähren, um vollendet zu sein. Erst der Stempel gibt ihr Legitimation.

Helden unter den internationalen Mail-Art-Künstlern, mit denen Bressem Kontakt hat, sind für ihre regimekritischen, perforierten Bildchen im Gefängnis gesessen. Clemente Padin aus Uruguay ist so einer. Denn das Klandestine, der Subtext, die Nachricht jenseits des Abgebildeten ist, was zählt.

In Berlin, „präziser: im Wedding“, lebt Bressem. „Der Bezirk, in dem die Leute wissen, dass sie auf wenig bauen können. Vor allem nicht aufs Geld.“ Vielen hier sitzt das Hemd näher als die Hose. „Sagen wir, das Hemd sitzt ihnen näher am Herz“, korrigiert Bressem. Der Künstler ist ein Gefühlsmensch.

Die Armut im Bezirk hat er kennengelernt. Zehn Jahre lang hat er die Rathauskantine des Bezirks geführt. Am Leopoldplatz steht das Gebäude. Zu beschönigen gibt es da nichts. Während er Bouletten knetete, schweiften seine Gedanken ab. Zwischen Kartoffelsalat, Schnitzeln und Gurkengemüse entstanden Projekte, die ihn zum Konzept-Künstler machten. Nachts arbeitete er sie zu Hause in seiner Kammer hinter der Küche aus. Gerade mal drei Quadratmeter ist sein Atelier groß. Kein Wunder, dass er Miniaturen macht.

Weil er den Leuten in der Kantine eine Freude machen wollte, forderte er seine internationalen Mail-Art-Kollegen per Internet auf, statt Briefmarken einmal Rabattmarken zu malen. Wer in der Kantine aß, bekam eine und konnte sie in ein eigens dafür entworfenes Heft kleben. War es voll, gab es 1,60 DM zurück. Vom Professor der nahen Fachhochschule bis zum Obdachlosen freuten sich die Leute an den daumennagelgroßen Bildern. Fische, Schildkröten, Libellen, Affen, keltische Symbole, Jäger, Sammler, das ganze Universum war darauf abgebildet. Für den Bruchteil einer Sekunde wird beim Betrachten die Gegenwart vergessen. Heute sind seine „RabARTmarken“ Sammlerstücke. Kundenbindung hat Bressem auf diese Weise mit Kunst verschmolzen. Nur einer von vielen Versuchen. Die Weddinger Nomenklatura aber hat sein Engagement nicht gewürdigt, Bressem gab die Kantine nach zehn Jahren auf.

Selbst auf Bezirksebene wird geschachert. Bressem hat es mitgekriegt. Beflissen kommt einer der alten kommunalen Besserwisser, der seit der Wahl nun in der Warteschleife hängt, auf ihn zu, als er ihn in der Kneipe wiedererkennt. „So, Künstler bist du geworden. Wie läuft es denn? Wir müssen miteinander sprechen. Ich rufe dich an.“ Mit Handschlag wird Bressem verabschiedet. „Schwätzer“, sagt der Künstler. „Ich kann unbesorgt sein, er wird erst anrufen, wenn ich ihm nützlich bin.“ Er schaut dem Mann nach, wie er in sein Auto steigt. „Sie reden von großen Projekten, aber sie haben keine Visionen.“

Die Kantine hat der 42-Jährige übernommen, weil er mit den Menschen was zu tun haben wollte. Davor war er als junger Koch auf dem Weg in den kulinarischen Olymp. In Fünf-Sterne-Hotels in London, Berlin und Genf hat er gearbeitet, sogar für die Queen gekocht. „Du bist verrückt! Du setzt deine Karriere aufs Spiel!“, sagten seine Freunde, als sie das mit der Kantine erfuhren. Mit seinen Briefmarken aber setzt Bressem immerhin dem asiatischen Freund aus der Hotelküche des Portman Intercontinental in London ein Denkmal. „Post L’Exesleisen“ heißt die fiktive Behörde, die Bressems Wertzeichen ausgibt. Die Wortschöpfung stammt vom radebrechenden Kollegen. Den „Eggslicer“, Eierschneider, wollte er, wenn er etwas sagte, was sich wie „Exesleisen“ anhörte.

Bressem ist ein Visionär, ein Himmelstürmer, ein Idealist. Sein größter Traum: „Eine Gesellschaft zur Aufhebung der Schwerkraft gründen.“ Sein Faible gilt allem, was fliegt: Drachen, Vögel, Flugzeugen. In seiner Fantasie reicht das Schöne bis zum Horizont. Letztes Jahr hat er den „Himmels-Aal“ kreiert. Rohrpost der Lüfte. Eine versiegelte Architektenrolle wurde aus 160 Metern Höhe abgeworfen. An drei Regenschirmen schwebte sie der Erde zu: Einem mit bunten Punkten, einem in Türkis und einem roten. In der Rolle waren Mail-Art-Briefe. Per Internet war die Einladung zur Himmels-Aal-Expedition herausgegangen. Fast 200 Antworten aus aller Welt kamen. An der geplanten Abwurfstelle musste Bressems Freundin die Architektenrolle suchen. Bevor die Briefe an die Künstler zurück gingen, wurden sie mit einer „Bordmarke“ und einen Sonderstempel versehen: „Erste Ereignispost – Motorgleiterabwurfpost“.

Danach entwickelte er das „Zepp-O-gramm“. Ein ferngesteuerter Miniaturzeppelin transportierte Post von A nach B. Die Orte sind nicht wichtig. Auch nicht deren Entfernung. Nur dass es stattgefunden hat. Alles ist eine Frage der Leidenschaft. „Man macht sich auf eine Art lächerlich, weil die Leute lange nicht verstehen, was man will.“

Cargolifter, das ehrgeizige, in Konkurs gegangene Luftschiffprojekt in Brandenburg, hat es Bressem besonders angetan. Noch sei nicht aller Tage Abend. Neben einer Spendenmarke für das angeschlagene Unternehmen, die er in Umlauf gebracht hat und die von Sammlern bereits international begehrt ist, wurde diesen Sommer das „Heliogramm“ erfunden. Gemeint sind Briefe, die beim ersten Passagierflug mit dem Luftschiff „Charly“, das noch im Besitz von Cargolifter ist, befördert wurden. Vom Standort in Brand über den Spreewald und zurück. Zwei Jahre lang hat er auf diesen Moment hingearbeitet. „Die Sache hat mich in der Szene zum Star gemacht. Keiner ist so bekloppt und so zäh wie ich.“

Seit er nicht mehr Koch ist, hatte Bressem mehrere Ausstellungen. Fast alle seine „Artistamps“ hat er verkauft. In Sammlungen in Ontario, Seattle und Moskau ist er vertreten. Dabei war er dieses Jahr auch beim Weddinger Kultursommer. Dort entdeckten Kinder den Märchenerfinder und waren fasziniert. Sie wollten selbst Briefmarken machen. Weil der Druck was kostet, wurde kurzerhand die „allererste Weddinger Kunstspendenmarke“ erfunden. Das Motto: „Der Wedding klebt“. Eine Marke kostet einen Euro. Das Geld wird für die Materialien der Kinderpostflugaktion gebraucht. „Die Kinder verhungern seelisch, weil sie keine Geschichten mehr erleben“, sagt Bressem. Nun werden Briefmarken entwickelt, die mit dem „Himmels-Aal“ von oben aus einem Haus nach unten auf die Straße „verschickt“ werden. Es gibt eine „Bodencrew“ und eine „Postbearbeitungscrew“. Außerdem wurde den Kindern ein Ausweis gemacht. „Offizielle Kinderkulturbeauftragter“ sind sie nun. Sprecht in Schulen und Jugendzentren über eure Ideen, denkt euch eigene Geschichten aus, zeigt den Lehrern eure Fantasie, lautet der Auftrag. Die Kinder sind begeistert von dem Vertrauen, der Verantwortung. „Jetzt, wo ich zum Kiezboten bestellt bin, will ich diesen Job auch nicht mehr verlieren“, hat die 12-jährige Sofia ins Gästebuch auf Bressems Homepage geschrieben.

„Der Wedding lebt – Kunst im Raum“, Ausstellung in der Milchmeergalerie, Fehmarner Str. 22, U-Bahnhof Amrumer Straße, 5. 10. ab 18 Uhr und 6. 10. von 12–18 Uhr