Die Tage des Zorns sind vorbei

Von Regenhexen und Barkeepern, Gespenstern und Kampfhunden: Litauen ist in diesem Jahr Schwerpunktland der Frankfurter Buchmesse. Ein Blick in die Literatur eines kleinen Landes, in dem 6.000 verkaufte Exemplare bereits einen Bestseller machen

Litauen ist in das Jahrzehnt der Selbstfindung übergegangen

von KATHARINA GRANZIN

Es war ein Akt reinen Wagemuts. Als das kleine Litauen sich Ende letzten Jahres kurzfristig bereit erklärte, die vakant gewordene Position als Schwerpunktland bei der diesjährigen Frankfurter Buchmesse zu besetzen, rieb das deutschen Feuilleton sich erst einmal verdutzt die Augen. Schlimmer noch traf es die hiesige Verlagsszene. Sie sah sich mit der Zumutung konfrontiert, eine Literatur innerhalb eines Dreivierteljahres übersetzt auf den Markt zu bringen, von deren Existenz sie bisher fast keinerlei Kenntnis genommen hatte.

Daher schlägt zur Buchmesse die Stunde des kleinen Athena-Verlags in Oberhausen. Seit fast zwei Jahren erscheint hier bereits die Reihe „Literatur aus Litauen“ – ein Projekt, das sich auf puren Idealismus und eine offenbar geglückte Mischkalkulation gründet. Ein beträchtlicher Teil der zur Messe lieferbaren Titel stammt also aus Oberhausen. Doch auch ein paar wenige große Verlage haben sich auf das Abenteuer Litauen eingelassen. Die etwa zwei Hände voll litauischer Literatur, die jetzt in deutscher Sprache vorliegen, mögen im gigantomanischen Buchmessenkontext sehr bescheiden wirken. Für die noch uneingeweihte deutsche Leserschaft hat diese Beschränkung den Vorteil der Übersichtlichkeit – die auf eine gewisse Art und Weise auch den litauischen Buchmarkt auszeichnet.

In einem Land mit gerade einmal 3,7 Millionen Einwohnern muss sich ein Buch nur 6.000-mal verkaufen, um zum Bestseller zu werden. Das schafft in Litauen ein Roman von Eco oder Kundera, aber nur ganz selten ein einheimischer Belletristiktitel. 1993 gelang der damals 32-jährigen Jurga Ivanauskaite ein wahrer Superseller mit ihrem Roman „Die Regenhexe“. Innerhalb von zwei Wochen wurden 20.000 Exemplare verkauft, was sich nicht zuletzt dem Engagement der litauischen Behörden verdankte, die den Roman für „pornografisch“ erklärt und in den Erotikfachhandel verbannt hatten.

„Die Regenhexe“ ist eine groß angelegte erotische Fantasie einer Frau, die im Roman in drei Erscheinungsformen auftritt: als heutige Psychiatriepatientin (die es mit einem Priester treibt), als mittelalterliche „Hexe“ (die es mit einem wundertätigen Prediger treibt) und als biblische Maria Magdalena (mit der Jesus es nicht treiben will). Es ist nicht leicht zu sagen, um was es hier geht: Sex als Religion, Sex statt Religion oder auch umgekehrt. Die öffentliche Erregung entzündete sich vor allem daran, dass sich im Roman ein katholischer Priester sexueller Handlungen schuldig macht. Schwerer noch mochte wiegen, dass Ivanauskaite die erotische Seite religiöser Ekstase, insbesondere die Funktion der Jesusfigur als Sexsymbol, so unverblümt offen legt und das Ganze noch nebenbei mit heidnischen Elementen und der buddhistischen Idee der Wiedergeburt verknüpft. In seinem schwül-heiligen Ernst ist „Die Regenhexe“ ein großartiger Trivialroman, auch wenn die nymphoman-masochistische Grundstimmung einem ziemlich schnell auf die Nerven fallen kann. – Im benachbarten, ebenfalls katholischen Lettland wurde die Übersetzung des Buches mit Gleichmut aufgenommen. So ist die hysterische Reaktion in Litauen, das als letztes europäisches Land christlich wurde, vielleicht am ehesten vergleichbar mit der Militanz eines frisch bekehrten Nichtrauchers.

Unter der ins Deutsche übersetzten Belletristik ist Ivanauskaites Roman mit seiner überzeitlichen Story eine Ausnahme. Alle anderen längeren Prosatexte stellen dagegen einen deutlichen Bezug zur litauischen Realität her.

Als großer Erneuerer der Literatur seines Landes galt Ričardas Gavelis, der kürzlich im Alter von 52 Jahren verstarb. Sein schmaler Erzählungsband „Friedenstaube. Sieben Wilnaer Geschichten“ lässt erahnen, welch großen Verlust sein Tod für die litauische Literatur bedeutet. Gavelis’ Schreibweise könnte man annäherungsweise an der Schnittstelle zwischen Surrealismus, magischem Realismus, Kafka und Roald Dahl verorten, aber gleichzeitig muss jeder Versuch plump wirken, diese eigenartige Gespensterprosa mit Hilfe bekannter Kategorien einzuordnen und wegzustecken.

Kein Satz, den Gavelis schreibt, ist irgendwie ungewöhnlich. Ort und Zeit sind real: Vilnius nach dem Ende der Sowjetunion. Das Gespenstische seines Vilnius ergibt sich erst aus der Brechung der äußeren Realität in einer abseitig gewählten Perspektive, in der extremen, trostlosen Einsamkeit seiner Figuren. Ein Kampfhund erzählt aus seinem Leben mit einem kleinen Mafiaboss, der alles mit dem Vierbeiner teilt: Arbeit, Essen und Frauen … Ein frustriertes junges Model fantasiert sich einen imaginären Geliebten herbei, der jedoch Opfer der Mafia wird – in die sich in ihrem Kopf die Angestellten der Model-Agentur verwandelt haben. Trotz ihrer absurden Elemente ist diese Prosa alles andere als zum Lachen. Sie ist zum Fürchten; und Rettung lauert nirgendwo.

Was bisher leider fehlt, ist die deutsche Übersetzung von Gavelis’ Hauptwerk „Poker in Vilnius“, das als revolutionärer Befreiungsschlag von den Zwängen des sozialistischen Realismus gefeiert wurde und mit einer verkauften Auflage von 300.000 wohl der erfolgreichste litauische Roman des Jahrhunderts war. Als er 1989 noch zu Sowjetzeiten erscheinen durfte, standen die Leute stundenlang vor den Buchläden Schlange. Da ist es vielleicht nur gerecht, wenn auch wir ein bisschen darauf warten müssen.

An literarischer Auskunft über die litauische Sowjetzeit mangelt es indes nicht. Die Tage des Zorns aber scheinen endgültig vorbei und in das Jahrzehnt der Selbstfindung übergegangen zu sein. In der Epoche des Übergangs zwischen Spätsozialismus und Unabhängigkeit spielt „Sterne der Eiszeit“, ein Roman der jungen Schriftstellerin Renata Serelyte. Serelyte, die Jahrgang 1970 ist, verlebte ihr gesamtes Erwachsenenleben schon im unabhängigen Litauen. Die Kindheit ihrer Ich-Erzählerin auf dem Lande, die den ersten Teil des Romans ausmacht, kontrastiert die Autorin mit dem Leben der Erwachsenen als ambitionierter Nachwuchsschriftstellerin in Vilnius. Doch die tiefe Kluft zwischen dem rückständigen – hier zugleich sowjetischen – Landleben und dem pulsierenden Nachwende-Vilnius, die Serelyte thematisch auslotet, ebnet sie durch ihre überschäumende poetische Sprache wieder ein. In dieser metaphern- und symbolgetränkten Welt werden die dörflichen Säufer, Schläger und Funktionäre ebenso zu mythischen Figuren verklärt wie die städtischen Barkeeper, Dichter und Intellektuellen. Geschichte und Gegenwart haben da vor allem die Funktion verschiedener lyrischer Färbungen am Himmel der poetischen Selbstreflexion.

Leichter zugänglich ist Jurgis Kunčinas’ Roman „Mobile Röntgenstationen“ von 1998, der einen literarischen Blick zurück ins Jahr 1968 wirft. Auch dies ist kein Blick zurück im Zorn, sondern eher eine nostalgische Nabelschau. Der studentische Held – wie bei Serelyte ein Ich-Erzähler – steht vor dem Problem, sich mit einer glaubwürdig simulierten Krankheit der Einberufung zur Armee zu entziehen, die sich gerade anschickt, die Bruderstadt Prag zu „befreien“. Während am Rad der Weltgeschichte gedreht wird, kreist Kunčinas Held in anarchischer Unbekümmertheit um den eigenen Unterleib. Zwischen Ferienlager, Krankenhaus und Rausschmiss aus der Universität bieten sich vielfältige amouröse Gelegenheiten, die er dankbar wahrnimmt. Sang- und klanglos enden sie alle; und beim Militär landet er schließlich doch. Aber auch das ist irgendwie nur halb so wild. Mit seiner ironischen, realistischen Schreibweise zeigt sich Kunčinas als Vertreter einer vertrauten Tradition. Seine „Liebes- und Krankheitsgeschichte“ könnte ebenso gut den Titel „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ tragen.

So gerne man die Bücher Kunčinas’ und seiner Kollegen und Kolleginnen zu den „Mitteleuropäern“ ins Regal stellen möchte, so wenig passt dieses Label zu einem anderen Autor – zu Icchokas Meras. Sein Roman „Remis für Sekunden“ ist zwar alles andere als eine Neuerscheinung, gehört aber zu den kostbaren Perlen, die in den schnell strömenden Gewässern des Literaturmarkts manchmal lange unbeachtet auf dem Grund liegen.

„Remis für Sekunden“, bereits 1963 geschrieben, führt zurück in die Zeit der deutschen Besatzung, in der 90 Prozent der litauischen Juden ermordet wurden. Meras’ Ghettogeschichte bannt die Trauer um die Toten in eine streng durchkomponierte Form. Jedes Kapitel beginnt mit einem Zug eines makabren Schachspiels, mit dem der junge Isaak gegen den Ghettokommandanten antritt. Verliert Isaak, werden alle Kinder des Ghettos ins KZ gebracht. Gewinnt er, so muss nicht nur Isaak sterben, sondern auch seine geliebte Esther.

Lange hofft Isaak auf ein Remis als einzige Rettung; doch für die Machtlosen kann es immer nur ein „Remis für Sekunden“ geben. Dennoch alles daran zu setzen, es zu erreichen, heißt, die eigene Menschlichkeit zu verteidigen: Es ist nicht der drohende Tod, der den Grundton des Romans bestimmt, sondern jene Ahnung von Freiheit, die in der eigenen Schicksalswahl liegt. Meras spielt dieses Thema auf der symbolischen Ebene des Schachspiels und in zahlreichen Variationen anhand der Schicksale von Isaaks Geschwistern durch. Die erzählerische, strophenhafte Parallelität der einzelnen Leidensgeschichten verdichtet den Prosatext zu einem großen Klagegesang.

Meras’ fast schroffe, karge Sprache entfaltet dabei eine schwingende Poesie, die zwischen und über den Worten liegt. Die strenge Symbolik, der Meras seinen Stoff unterwirft, verleiht ihm eine geradezu biblische Wucht. Es ist so ein schmales Buch. Aber es kann ganz allein im Regal stehen.

Jurga Ivanauskaite: „Die Regenhexe“. Aus d. Litauischen von Markus Roduner. dtv, München 2002, 295 S., 14,50 € Ričardas Gavelis: „Friedenstaube. Sieben Wilnaer Geschichten“. Aus d. Litauischen von Klaus Berthel. Athena Verlag, Oberhausen 2001, 117 S., 12,90 € Renata Serelyte: „Sterne der Eiszeit“. Aus d. Litauischen von Akvile Galvosaite. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2002, 316 S., 21 €ĽJurgis Kunčinas: „Mobile Röntgenstationen“. Aus d. Litauischen von Klaus Berthel. Athena Verlag, Oberhausen 2002, 220 S., 14,90 €ĽIcchokas Meras: „Remis für Sekunden“. Aus d. Litauischen von Irene Brewing. Aufbau Verlag, Berlin 2001, 160 S., 6,50 €