Menschen ohne Geschichte?

Was weiß die Mehrheit der bundesdeutschen Gesellschaft über die Herkunft der Arbeitsmigranten? Und was weiß sie über ihre eigene Migrationsgeschichte? Welche Bilder verbindet sie damit? Der Einwanderungsgesellschaft ein Gedächtnis geben

von JAN MOTTE
und RAINER OHLIGER

Bahnhof Köln-Deutz, 10. September 1964: Der millionste „Gastarbeiter“, der Portugiese Armando Sa Rodrigues, wird mit großem Bahnhof empfangen. Arbeitgeberverbände, Regierungsvertreter und Medien bereiten dem überraschten Arbeitsmigranten einen herzlichen Empfang und überreichen ihm als Willkommensgeschenk ein Moped. Eine Erinnerungsikone, die in den folgenden Jahrzehnten weite mediale Verbreitung findet und über und über reproduziert wird, ist geboren.

Deutschland November 1989, die Berliner Mauer fällt: Die Deutschen sind sich wieder nah und bleiben sich doch bis heute so fern. Wolfgang Thierse fordert als Reaktion auf die Wiedervereinigung: „Lasst uns zu Erzählgemeinschaften werden.“ Die Idee war wohl: Wenn man die „Geschichte(n)“ der jeweils anderen kennt, versteht man sich besser.

Westdeutschland 1959: Nach einem Jahrzehnt Eingliederung betonte eine zusammenfassende Darstellung zur Rolle der Flüchtlinge und Vertriebenen in der westdeutschen Gesellschaft die große Bedeutung der Kultur und der Kulturpolitik für den Erfolg der Integrationspolitik. Sie müsse als „säkulare Seelsorge“ angesehen werden. Eine staatliche Seelsorge, die bis heute auf die Traditionen der Herkunftsregionen und die Geschichte der deutschen Zwangsmigranten abhebt. So hat sich Flucht und Vertreibung zu einem „deutschen Erinnerungsort“ verdichtetet.

Von einer solchen Verankerung als Erinnerungsort oder besser als erinnerte Geschichte ist die Vergangenheit der Arbeitsmigranten weit entfernt. Als die beiden Historiker Etienne François und Hagen Schulze die Einleitung zu ihren „Deutschen Erinnerungsorten“ verfassten, muss sie eben dieses Unbehagen befallen haben. Während sie drei massive Bände der Öffentlichkeit vorstellten, diskutierte die bundesdeutsche Gesellschaft auf allen Kanälen das Thema Zuwanderung. In das bildungsbürgerliche, „alemannische“ Erinnerungsghetto fanden Einwanderer jedoch keinen Einlass. Migration und Migranten, ein Thema ohne Erinnerungsorte?

Schulze und François reagierten in der Einleitung des ersten Bandes noch in letzter Minute auf die aktuelle Debatte. Das „kollektive Gedächtnis der jungen Deutschtürken, der Spätaussiedler, der Kriegsflüchtlinge und der Asylanten [sic!]“ entzieht sich, so die beiden Herausgeber, ihrem Blick. Nimmt man die langsam beginnende zeitgeschichtliche Forschung zu diesem Thema aus, so macht man in Bezug auf Einwanderung nicht allein bei den „Deutschen Erinnerungsorten“ ein Erinnerungsvakuum aus. Andere Medien bilden ebenfalls weitgehend Leerstellen, seien es Schulgeschichtsbücher als gedruckte Endprodukte eines politisch-administrativen Gerinnungs- und Gesinnungsprozesses, seien es Museen, seien es Denkmäler oder Straßennamen als alltägliche Orte von Anerkennung und Teilhabe im öffentlichen Raum. Keiner dieser Orte transportiert oder symbolisiert die Geschichte der Arbeitsmigration. Jenseits des privaten Raums findet sich keine Signatur der Einwanderung. Dieser Zustand der Erinnerungslosigkeit ist Produkt der Mehrheitsgesellschaft. Sie nutzt ihre vorherrschenden Deutungsmuster zur Vermittlung der großen Geschichte und all der kleinen Geschichten, lässt aber die Migranten in der Regel außen vor.

Der Erinnerungsort der Migration, der es unter diesen Bedingungen verdient gehabt hätte, in die „Deutschen Erinnerungsorte“ aufgenommen zu werden, ist das Bild von Armando Sa Rodrigues und seinem Willkommensgeschenk, einem Moped. Dieses Bild des millionsten angeworbenen Gastarbeiters aus dem Jahr 1964 ist die Erinnerungsikone der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte zum Thema Einwanderung. Das Moped des Anfang der 80er-Jahre an den Folgen eines Arbeitsunfalls verstorbenen Sa Rodrigues befindet sich heute im Besitz des „Hauses der Geschichte“ in Bonn, nachdem es von Sa Rodrigues’ Familie zurückgekauft worden ist. Es ist eine Erinnerung an die Arbeitsmigranten, die jedoch dem Blickwinkel der Einwanderer nicht entspricht: Sie blendet die Wirklichkeit der oft beschwerlichen Existenz von Arbeitsmigranten aus und reduziert die Geschichte auf die Willkommensgeste. Der Erinnerungsort des eine millionsten „Gastarbeiters“ Sa Rodrigues und seines Mopeds böte hingegen reichlich Raum für eine andere Erzählung.

Einwanderer, der Vergleich zwischen Arbeitsmigranten und Vertriebenen zeigt es, werden auf dem Feld von Kultur und Erinnerung nicht per se diskriminiert. Von Beginn an beinhaltete die Politik gegenüber den deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen der Nachkriegszeit und ihren Epigonen den Aussiedlern zwei Elemente. Es wurde einerseits gleichberechtigte politische Partizipation sowie soziale Integration ermöglicht und andererseits kulturelle Anerkennung durch zahlreiche eigene Institutionen gewährleistet.

Was aber weiß die Mehrheit der bundesdeutschen Gesellschaft über die Herkunft der Arbeitsmigranten Und was weiß sie über ihre eigene Migrationsgeschichte und die Bedeutung von Einwanderungsprozessen für die Gesellschaft? Zugespitzt, aber sicherlich nicht überspitzt kann der weitgehend unerforschte Kontinent der Einwanderungsgeschichte für die Mehrheit der Deutschen folgendermaßen beschrieben werden: Die Ikone Armando Sa Rodrigues und sein Moped bilden die Eingangsbucht, in die das Schiff der Erkenntnis einläuft. „Pizza und Döner“ hingegen stehen am anderen Ende des zu durchquerenden Gebietes. Zwischen diesen klischeebehafteten Grenzsäumen des Gedächtnisses, erstreckt sich eine unbekannte Landmasse. Welche Bilder jenseits der privaten Erinnerung haben Einwanderer über die nun bereits über 40 Jahre währende Zeit in der Bundesrepublik entwickelt? Welche Chancen bestanden für sie, die Erfahrungen der ersten Generation von so genannten „Gastarbeitern“ öffentlich zu diskutieren? Welche Folgen hat es, wenn sich die Geschichte jedes zehnten Bewohners der Bundesrepublik lediglich im Privaten entwickeln kann, letztendlich aber unsichtbar bleibt?

Einer Gesellschaft, die lange gebraucht hat, um überhaupt zu einer Diskussion über Einwanderung zu finden, stehen noch viele Neuentdeckungen aus, insbesondere in Bezug auf ihre eigene Geschichte. Die Geschichte, die es dabei zu entdecken gilt, hat ein doppeltes Publikum: das der Mehrheitsgesellschaft, die bislang noch eine gleichberechtigte Repräsentation der Migranten verhindert, und die Gruppe der Einwanderer, die versucht sich dieser Einwanderungsgeschichte Stück für Stück zu bemächtigen.

Auf dem Schlachtfeld, auf dem seit zwei Jahren um das „Zuwanderungsgesetz“ gefochten wird, haben die Großgeschütze von Sprache und Integration viel Rauch entwickelt. Zuletzt war gar das schrille Pfeifen eines sozialdemokratischen Assimilationsschrapnells zu hören. Abseits dieses Getümmels scheint jedoch etwas in Bewegung geraten zu sein. Und zwar etwas, das auf weit mehr zielt als die Diskussion über den Fetisch Integration: Kürzlich fand man in der Ruhrgebietspresse an einem Tag zwei von einander unabhängige Hinweise zur Gründung von Migrationsmuseen. Wenige Tage später las man – Ausgleich muss sein – in der rheinischen Presse, dass es in der Domstadt ebenfalls ein Migrationsmuseum geben solle.

Im Jahr 2005 steht der 50. Jahrestag des deutsch- italienischen Anwerbevertrags an und damit der Beginn der millionenfachen Einwanderung in die Bundesrepublik. Bei 56 Jahren Bundesrepublik werden Migranten dann 50 Jahre lang dabei gewesen sein. Sind es vielleicht doch keine Menschen ohne Geschichte? Sollten Einwanderer und Einwanderinnen gar ein integraler und wesentlicher Teil einer neu zu schreibenden deutschen Geschichte werden, so wie es Bundespräsident Rau auf dem jüngst vergangenen Historikertag in Halle fragend anmahnte?

Jan Motte und Rainer Ohliger, beide Historiker, gehören zu den Gründungs- und Vorstandsmitgliedern der NGO Netzwerk Migration in Europa e. V. (www.network-migration.org). Sie arbeiten als wissenschaftliche Mitarbeiter im Bereich der Migrationsforschung in Solingen beziehungsweise Berlin.