Die Afghanisierung der PDS

Das Fußvolk fürchtet schon, die Partei könnte überflüssig geworden sein

von JENS KÖNIG

Es tut auch einer 4-Prozent-Partei wie der PDS gut, noch ein paar Gewissheiten zu haben. Die Genossen haben sie im Moment sogar dutzendweise: Parteichefin Gabi Zimmer will Vorsitzende bleiben. Ihre Stellvertreterin Petra Pau und ihr Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch sind davon überzeugt, dass die Wahl Zimmers den Tod der PDS bedeuten würde. Beide haben angekündigt, unter Zimmer nicht mehr arbeiten zu wollen. Pau wollte auf dem Parteitag in Gera am kommenden Wochenende selbst Parteichefin werden, musste aber schmerzlich erkennen, dass ihr das Reformerlager einen Sieg in einer Kampfabstimmung gegen Zimmer nicht zutraute. In seiner Verzweiflung über den Zustand der PDS ist jetzt sogar Bartsch selbst bereit, gegen Zimmer anzutreten, obwohl er gerade die Rolle des sozialistischen bad guy gibt. Viele Genossen stempeln ihn zum Sündenbock für die Niederlage bei der Bundestagswahl. Peter Porsch und Dieter Dehm wiederum, beide ebenfalls stellvertretende Parteivorsitzende, fordern Bartschs Entlassung als Bundesgeschäftsführer. Gleichzeitig wollen sie Zimmer halten, weil sie hoffen, mit einer Parteivorsitzenden von ihren Gnaden den eigenen Einfluss in der PDS ausbauen zu können. An Zimmers Seite stehen ebenfalls die Landesverbände von Thüringen und Sachsen. Die von Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern denken wie Bartsch und Pau. Roland Claus, bis zum 22. September Fraktionschef der PDS im Bundestag, hält Zimmer für alles andere als ein gute Parteivorsitzende; trotzdem will er, dass sie wiedergewählt wird. Er erklärte sich sogar bereit, unter ihrer Führung als Bundesgeschäftsführer zu arbeiten. Nach Bartschs gestriger Kampfansage an Zimmer wird er sich das noch mal überlegen.

Ja, ja, genauso sehen sie aus, die Gewissheiten, die die PDS dieser Tage so mit sich rumschleppt. In der Führung kämpft jeder gegen jeden. Die, die noch bis vor drei Wochen einträchtig als Spitzenteam der Partei von den Wahlplakaten lächelten – Zimmer, Pau, Bartsch, Claus –, stehen plötzlich in verschiedenen Lagern gegeneinander. Alte Rechnungen werden beglichen, und über den Kurs der PDS wird gestritten. In anderen Parteien würde man das als einen bösen Machtkampf bezeichnen. Die PDS hingegen wäre heilfroh, wenn sie nur einen Machtkampf am Hals hätte.

Für sie steht mehr auf dem Spiel als nur Macht und Eitelkeit. Nach dem verpassten Einzug in den Bundestag geht es um die schiere Existenz der Partei. Während die führenden Genossen auf der großen Bühne noch die Messer wetzen, jederzeit bereit, im passenden Moment den Gegner damit hinterrücks niederzustechen, macht sich hinter der Bühne, beim sozialistischen Fußvolk, schon die Angst breit, die Partei könnte schlichtweg überflüssig geworden sein. In dieser Situation ist es auf jeden Fall hilfreich, dass die PDS über einen Ehrenvorsitzenden verfügt, der wenigstens für die folkloristische Ausstattung dieses Dramas sorgt. Hans Modrow, auf seine alten Tage noch Europaabgeordneter, kabelte Mitte der Woche direkt aus Brüssel die knüppelharte Kritik, von der Berliner PDS habe sich noch niemand zur Ablehnung des Gnadengesuchs für Egon Krenz durch den rot-roten Senat geäußert.

Zwei Tage vor dem entscheidenden Parteitag in Gera steht die PDS vor dem Nichts: Sie weiß nicht, wer die Partei führen soll, sie weiß erst recht nicht, welche Partei eigentlich gemeint ist, wenn von der Partei des Demokratischen Sozialismus die Rede ist, und sie weiß schon gar nicht, ob es die Partei in vier Jahren überhaupt noch gibt. Gut, zwei Abgeordnete sitzen bis 2006 im Bundestag. So viel ist sicher. Immerhin.

Eine Krisensitzung jagt die nächste, ein Strategiepapier nach dem anderen wird geschrieben. Ein debattierfreudiges Chaos, wohin man in der Partei auch schaut. Auch der letzte Schlichtungsversuch im Bundesvorstand am gestrigen Mittwoch ist gescheitert. Das Führungsgremium, in dem alle möglichen Vertreter aller möglichen Strömungen der Partei vertreten sind, konnte sich nicht einmal auf einen gemeinsamen Antrag für den Parteitag einigen, der die wichtigsten Aufgaben der PDS in der nächsten Zeit festschreibt.

Der Entwurf von Parteichefin Zimmer, den sie unter „Aufsicht“ des ehemaligen Fraktionsvize Wolfgang Gehrcke erarbeitet hat, fand keine Mehrheit. Mehr Stimmen bekam im Vorstand ein Alternativantrag des Berliner Landesverbandes, der mit Billigung von Bartsch geschrieben worden ist. Darin wird in Abgrenzung zur Parteichefin festgehalten, dass die PDS „wie die SPD eine demokratische und soziale Reformpartei“ sei. Auf dem Parteitag in Gera sollen jetzt beide Anträge zur Abstimmung gestellt werden.

Einen letzten schmalen Rest an Gemeinsamkeit hat die PDS in diesen Tagen nur noch bei der Analyse der Ursachen für die Wahlniederlage herstellen können. Dazu hat der Vorstand ein Papier unter Führung von Bartsch erarbeitet. Es soll dem Parteitag vorgelegt, dort aber nicht abgestimmt werden. Die Quintessenz der umfangreichen Analyse könnte man in etwa so beschreiben: Schröders Antikriegshaltung, sein überzeugendes Flutmanagement, Gysis Rücktritt als Wirtschaftssenator, die Polarisierung im Wahlkampf zwischen Schröder und Stoiber, das taktische Angebot der PDS-Spitze, im Zweifelsfall Schröder als Kanzler mitzuwählen – all das sind Faktoren, die der Partei im Wahlkampf geschadet haben, aber sie sind nicht die Ursachen der Niederlage. Die liegen tiefer. Die PDS hat, kurz gefasst, kein ausgeprägtes inhaltliches Profil, einen zu geringen Gebrauchswert für ihre Wähler, keinerlei intellektuelle Ausstrahlung und eine zerstrittene Parteiführung, die um des lieben Friedens willen die Konflikte in der Partei nicht ausgetragen hat. „Die PDS“, so Bartsch, „braucht einen radikalen Neuanfang.“

Das bestreitet kaum jemand von den Genossen, nur: Worin soll der Neuanfang bestehen? Über diesen Streit versinkt die PDS im Chaos. Dabei ist die Hauptfrage nicht die, ob die Partei regieren oder lieber fröhlich opponieren soll. In diesen einfachen Kategorien denken nur noch die orthodoxen Kommunisten und Marxisten um Sarah Wagenknecht. Der Grundkonflikt zieht sich vielmehr durch die Gruppe, die sich bislang als Reformflügel verstand. Zimmer meint, die PDS werde mittlerweile als „Teil des Parteienstaats“ wahrgenommen. Sie will die Partei näher an die außerparlamentarischen Bewegungen heranführen und zu einer Art Vorfeldorganisation von Attac machen. Das soll die Beteiligung an Regierungen einschließen. Für Zimmer heißt die Alternative so: „Orientieren wir uns eher auf ein soziales Mitte-unten-Bündnis oder auf ein Mitte-links-Parteienbündnis?“

„Alles Quatsch“, sagt Bartsch und mit ihm andere entschiedene Reformer, „das sind alles unproduktive theoretische Debatten.“ Wenn schon Partei, dann richtig Partei, meint er. „Es reicht nicht aus, die PDS als Plattform für Ideen anderer zu verstehen“, so Bartsch. Für ihn überdeckt Zimmers Ruf nach schärferer Opposition nur deren Ideenlosigkeit. Er will die PDS entschiedener als bisher zu einer Reformpartei mit konkreten politischen Projekten machen. Antikriegspartei, Aufbau Ost, soziale Gerechtigkeit: das müsse die PDS endlich erlebbar machen.

Die Auseinandersetzung in der PDS hat etwas Fatalistisches. Egal wer sich durchsetzt, der Niedergang der Partei, glauben viele, lässt sich so oder so nur sehr schwer aufhalten. Roland Claus befürchtet bereits eine „Afghanisierung“ der PDS: den Zerfall der Partei auf Bundesebene und die Machtübernahme durch die „Stammesfürsten“ in den ostdeutschen Ländern. Deshalb ist Claus, der politisch eigentlich Leuten wie Bartsch nahe steht, plötzlich im Zimmer-Lager zu finden. Er glaubt, Zimmer sei, trotz ihrer Schwächen, was konzeptionelles Denken, Selbstbewusstsein und mediale Ausstrahlung betrifft, die einzige Person, die die PDS in der gegenwärtigen Situation zusammenhalten kann. Da die entschiedenen Reformer um Bartsch seiner Meinung nach keinen überzeugenden Kandidaten für den Parteivorsitz haben, hält er eine Kampfabstimmung in Gera für einen Fehler: „Wenn Zimmer auf dem Parteitag gegen jemand gewinnt, der öffentlich für mehr Reformen steht, dann heißt es gleich wieder, die Orthodoxen übernehmen in der PDS jetzt das Ruder“, so Claus. „Das wäre ein Sieg, von dem wir uns nicht mehr erholen würden.“

Die Konsequenz daraus könnte sein, so kompliziert ist die Logik der Genossen dieser Tage, dass Claus am Ende selbst nach dem Parteivorsitz greift.