Als wären wir Tiere

Mehr als sechzig Jahre nach Ende des Spanischen Bürgerkriegs, ein Vierteljahrhundert nach Francos Tod, wird in Madrid erstmals das Thema Exil in einer Ausstellung aufgearbeitet. Spanien entdeckt das Schicksal der republikanischen Bürgerkriegsflüchtlinge

von REINER WANDLER

 Sie, die Sieger

 immer währende Kaine

 rissen mich aus allem

 ließen mir die Verbannung

 Luis Cernuda (Republikaner im Exil)

Was könnte den Begriff Exil besser unterstreichen als der zu einer Wiege umfunktionierte Koffer, das selbst gebaute Modell einer Dampfmaschine oder die speckige Arzttasche? Aufgereiht neben Dokumenten, Zeitungsausschnitten und Fotos, berichten die persönlichen Gegenstände vom Exodus einer Million Menschen während des Spanischen Bürgerkriegs (1936 bis 1939).

Ein Vierteljahrhundert nach der Rückkehr zur Demokratie besinnt sich Spanien auf seine Verstoßenen. Zu einem früheren Zeitpunkt wäre dies kaum möglich gewesen. Denn der Preis für den friedlichen Übergang zur Demokratie nach dem Tod von Putschgeneral Francisco Franco 1975 war die Amnesie, das aufgezwungene Vergessen der Opfer von Krieg und Diktatur. „Exilio“ heißt die groß angelegte Hommage in Form einer Ausstellung im Palacio de Cristal im Stadtpark von Madrid. Ein zweiteiliger Dokumentarfilm im staatlichen Fernsehen und ein Buch voll Erinnerungen der Zeitzeugen ergänzen die Erinnerung an „das andere Spanien“.

„Völker, die ihre Geschichte nicht kennen, sind dazu verdammt, sie zu wiederholen. Jahrelang wurde nicht darüber gesprochen, was unser Kampf, unser Widerstand, all das, was aus der Ausrufung der Republik in Spanien entstand, darstellte“, mahnt Carmen Parga, die von Mexiko aus ihren Teil zum Gelingen von „Exilio“ beigetragen hat. Gemeinsam mit ihrem verstorbenen Mann, dem republikanischen General Manuel Tagueña, verließ Parga Spanien 1939, als alles verloren war. Hunderttausende taten dasselbe.

„Nach der Niederlage der republikanischen Armee flüchtete die Zivilbevölkerung unter Maschinengewehrbeschuss auf den Landstraßen. Sie lassen uns nicht in Ruhe, trotz der Niederlage. Wir werden von der italienischen und der deutschen Luftwaffe massakriert … alle Welt auf der Flucht. Eine halbe Million Menschen, fünfhunderttausend Personen, Kinder, Frauen, Alte … verlauste Soldaten, Zivilisten … alle bunt gemischt …“, beschreibt Antonio Alonso – „Comandante Robert“, wie ihn einst seine kommunistischen Milizionäre in den Schützengräben vor Madrid tauften – die letzte Flüchtlingswelle, die das Ende des spanischen Traums von der sozial gerechten Republik besiegelte.

Die Tragödie des Exils hatte lange vor Kriegsende begonnen. Die ersten Flüchtlinge kamen aus der Baskenprovinz Guipúzcoa. Bereits einen Monat nachdem sich Franco am 18. Juli 1936 mit einem Teil der Armee gegen die verfassungsmäßige Ordnung erhoben hatte, verließen fünfzehntausend Menschen die Region rund um das nordspanische Atlantikbad San Sebastián Richtung Frankreich.

Im März und April 1937, nach der Bombardierung der Städte Durango und Guernica durch die deutsche Legion Condor, die den „Nationalen“ im Kampf gegen die Republik zu Hilfe kam, traten dreißigtausend Kinder eine lange „Ferienreise“ an, um in Sicherheit gebracht zu werden. Nur zwei Drittel kehrten nach Kriegsende zurück. Der Rest der niños de la guerra (Kriegskinder) blieb für immer in England, Belgien, Mexiko oder der Sowjetunion.

Als die Baskenmetropole Bilbao und die benachbarte Hafenstadt Santander fallen, zieht erneut eine Elendskarawane von 160.000 Flüchtlingen über die Pyrenäen. Aus der Bergregion Aragón sind es 25.000, aus der Gegend um das Mittelmeerstädtchen Alicante fünfzehntausend. Eine Million der damals 23 Millionen Spanier sollten es am Ende sein. 150.000 Menschen verloren im Krieg ihr Leben. Vierhunderttausend wurden von Francos Truppen ihrer Gesinnung wegen ohne Gerichtsverfahren hingerichtet.

Neben Soldaten der Republik, Milizionären, Aktivisten linker Parteien und Gewerkschaftern hatten große Teile der Intelligenz – vom Grundschullehrer über Freiberufler bis hin zu Politikern und Künstlern – das Land verlassen. Der Maler Pablo Picasso, der Schriftsteller Ramón J. Sender, der Musiker Manuel de Falla, der Poet Rafael Alberti, der Kinoregisseur Luis Buñuel oder der spätere Medizinnobelpreisträger Severo Ochoa sind nur einige derer, die den Truppen von Putschgeneral Francisco Franco entkamen.

„Jeder, der sein Land verlassen muss, weiß, dass er nach einer ersten Welle von Sympathie und Solidarität auf Ablehnung und Misstrauen stößt. Da sich der Flüchtling im Klaren darüber ist, dass seine Anwesenheit nicht gefällt, übt er sich in Bescheidenheit und Unterwürfigkeit“, erklärt der Initiator der Ausstellung und ehemalige stellvertretende Regierungschef unter Felipe González, Alfonso Guerra.

Am deutlichsten bekamen die Exilierten diese Ablehnung im Süden Frankreichs zu spüren. In der armen Grenzprovinz rund um Perpignan mit ihren 250.000 Einwohnern kamen bei Kriegsende auf einen Schlag fünfhunderttausend Flüchtlinge an. Die Behörden steckten Teile des Mittelmeerstrandes mit Stacheldraht ab und pferchten die Spanier dort zusammen. „Wir hatten keine Unterkünfte, keine Sanitäreinrichtungen, keine Toiletten“, erinnert sich Angel Gómez, der im Februar 1939 nach Frankreich kam. „Es gab einfach nichts. Als wären wir Tiere. Es gab einen Stacheldrahtzaun. Drinnen waren wir und hinter uns das Meer. Auf der anderen Seite des Zaunes waren die Senegalesen der französischen Kolonialarmee mit Maschinengewehren.“ Viele der Älteren starben in den Lagern. Die einzige Hilfe kam von den Quäkern aus England und vom Schweizer Roten Kreuz. Die französische Sektion der Hilfsorganisation ließ sich in den Camps nie blicken.

Wer Glück hatte, dem gelang die Weiterreise. Tausende von Kommunisten – vor allem Parteifunktionäre – wurden von der Sowjetunion aufgenommen. Doch das beliebteste Ziel der Exilierten waren die ehemaligen spanischen Kolonien in Lateinamerika. Besonders ein Land half den bedrängten Republikanern: Während Chile und Argentinien gezielt Intellektuellen Asyl gewährten, empfing Mexiko jeden mit offenen Armen – egal welcher sozialen Schicht er angehörte.

Wer in Frankreich blieb, den erwartete zuerst der Einsatz als Zwangsarbeiter und später dann ein weiterer Krieg, der Zweite Weltkrieg. Viele spanische Flüchtlinge dienten in der französischen Fremdenlegion oder in Spezialeinheiten der französischen Armee. Als Frankreich kapitulierte, schlossen sich viele Republikaner der Résistance an. Sie waren im Widerstand gegen die deutschen Truppen gern gesehen, verfügten sie doch über langjährige Erfahrung im Umgang mit Waffen.

Ob bei der Evakuierung der französischen Truppen aus dem Kessel in Dünkirchen oder bei den unzähligen Widerstandsaktionen in der Alpenregion Savoyen, die Spanier blieben den Franzosen durch ihre selbstlosen Einsätze gegen die Armee Nazideutschlands in guter Erinnerung. Als die Truppen von General Leclerc am 24. August 1944 Paris befreiten, prangten auf den ersten Panzern Namen wie Madrid, Teruel oder Guernica. Es waren spanische Republikaner der Neunten Kompanie, die das Rathaus der französischen Hauptstadt einnahmen.

Wer den Soldaten Hitlers in die Hände fiel, dem wurde der Status als Kriegsgefangener verwehrt, egal ob er der regulären französischen Armee angehörte oder der Resistance. Die „Rotspanier“, wie sie Franco und auch Hitler schimpfte, wurden deportiert. Zehntausend Spanier wurden in die Vernichtungslager der Nationalsozialisten gebracht, die meisten nach Mauthausen und Buchenwald. Weniger als dreitausend erlebten das Ende der Terrorherrschaft.

Mit dem Sieg der Alliierten über Nazideutschland kam auch bei den Exilanten wieder die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr in die Heimat. Doch anstatt Franco und damit die letzte faschistische Regierung in Europa zu stürzen, nutzten ihn die Westalliierten für den Kalten Krieg. Der Diktator gewährte den USA die Einrichtung von strategisch wichtigen Militärbasen an der Einfahrt zum Mittelmeer und erhielt dafür die internationale Integration. Die spanischen Demokraten mussten weiter warten.

Franco starb 1975, friedlich im Bett. Drei Jahre später, im November 1978, ging König Juan Carlos auf die Exilanten zu. Alle Zeitungen druckten das Foto, wie der junge Monarch in Mexiko Dolores Rivas Cherif, die Witwe des Präsidenten der von Franco gestürzten Republik, Manuel Azaña, in die Arme schloss. Einen Monat später wurde die neue Verfassung mittels Volksentscheid angenommen. 39 Jahre nach Ende des Bürgerkriegs war Spanien wieder eine Demokratie und das Exil zu Ende.

Dennoch kamen viele der Exilanten nicht zurück. Zu stark waren die Wurzeln, die sie mittlerweile fern der Heimat geschlagen hatten. Und so mancher, der den Weg nach Hause antrat, fühlt sich bis heute fremd in Spanien. „In dem Moment, in dem sein Exil zu Ende ist“, schreibt der Philosoph Adolfo Sánchez Vázquez, „entdeckt der Exilierte – zuerst mit Verwunderung, dann mit Schmerz und schließlich mit etwas Ironie –, dass die Zeit nicht spurlos an ihm vorübergegangen ist. Egal ob er zurückkehrt oder nicht, er wird immer ein Exilierter bleiben.“

REINER WANDLER, Jahrgang 1963, ist Spanien-Korrespondent der taz und lebt in Madrid