Wer liebt, will nicht tauschen

Eine Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing ging der Behauptung „Wer liebt, hat Recht“ noch einmal nach

Soll man das Thema Liebe zur Reflexion treiben – oder einfach die Klappe halten?

Nach dem abschließenden Mittagessen hat es Pfarrer Jochen Wagner sehr eilig. Er muss Fußball spielen. Das ist jeden Sonntagnachmittag so – da kann er auch an einem Tagungswochenende keine Ausnahme machen, selbst wenn es um das Thema Liebe geht. Doch vorher erzählt der 45 Jahre alte Studienleiter der Evangelischen Akademie Tutzing – „ein paar Maradona-Tricks kann ich, für die Bundesliga war ich aber zu zweikampfschwach“ – noch schnell seine Theorie vom „Ideal des Kaputten“. Wie wichtig es sei, das Bejahen des Nichtperfekten zu lernen („Liebe ist nicht nur das Fest des tollen Menschen“), und was es eigentlich heißt, im Jetzt zu leben: authentes ist im Griechischen nämlich das, was mit der Hand vollbracht wird. Und wenn die Französin maintenant sagt, dann spricht sie von dem, was man mit der Hand berühren kann. Dass Jochen Wagner über den „Leib des Menschen als Hintergrundmetapher im Werk von Walter Benjamin“ promoviert hat, könnte man sagen, liegt, nun ja, auf der Hand.

Drei Tage und zwei Nächte lang ging es am Starnberger See also um die Liebe. Das ist lustig. Das ist eine Zumutung. Eine lustige Zumutung. Denn sowohl die Themen der Vorträge als auch die Teilnehmer der Tagung bildeten je für sich eine wunderliche Mischung. Die Vortragenden teilten sich grob gesagt in eine kulturwissenschaftliche Fraktion – sie sprach über Liebe im Kino (Georg Seeßlen), in der Literatur (Barbara Vinken), in der Oper (Peter Heilker) und im Popsong (Elke Buhr) – und die Abteilung konkrete Seelsorge, vertreten von einer systemischen Paarberaterin (Renate Daimler), einer Psychoanalytikerin (Adriane Heldrich-Juchheim) und einem Pfarrer (Dr. Bernhard Barnikol-Öttler-Jörgensen).

Wie in einem Laborversuch konnte man beobachten, was entsteht, wenn ein therapeutisches – viele Teilnehmer kamen aus Lehr- und Heilberufen – auf ein philologisch-kulturwissenschaftliches Interesse trifft. Und vielleicht war ja genau das Jochen Wagners Plan: die beiden Welten aufeinander treffen zu lassen und zu beobachten, ob da was passiert, ob Versöhnung möglich ist: wenn schon nicht im Alltag, dann wenigstens im Sprechen über das Phänomen der Phänomene.

Das Geheimnis einer gelungenen Tagung ist ja die Frage, ob die Veranstaltung mehr war als nur eine Serie von Vorträgen. War sie. – Was vor allem an Jochen Wagner lag. Und an dem Ton, den er, wie man in Franken sagt, am Leib hat. „Soll man das Thema Liebe zur Reflexion treiben oder muss man nicht einfach die Klappe halten. Und einfach lieben?“ Zum Glück kann er die Klappe nicht halten. Selbst Ideologiekritik hört sich, im fränkischen Idiom formuliert, einfach zutreffender an. „Die Liebe ist das letzte Widerlager im Kapitalismus: Der Liebende unterbricht den Tauschvorgang, weil er da, wo er liebt, zumindest für den Augenblick, nicht tauschen will.“

„Wer liebt, hat Recht, das heißt ja vielleicht auch: Wer nach der Liebe fragt, hat schon mal Unrecht“, formulierte Georg Seeßlen gleich zu Beginn klug die Grenzen der Reflexion über das Thema Liebe. Aber „wovon man nicht sprechen kann, davon kann man sich ja vielleicht ein Bild machen.“ Und vielleicht stimmt ja, was Doris Dörrie einmal gesagt hat: „Liebe ist, dass man sich gegenseitig sichtbar macht.“

Der erste Abend der Tagung widmete sich ganz allein dem Film. Nach Seeßlens Überlegungen zur Ästhetik des Sichtbarmachens – illustriert an zahlreichen Beispielen von Buster Keaton über Luchino Visconti bis Steven Spielberg – gab es als konkretes Anschauungsmaterial Benjamin Quabecks filmischen Entwicklungsroman „Nichts bereuen“, der den Tagungsleiter besonders beeindruckte, weil er alle Formen der Liebe enthält: Eros (leidenschaftliche Liebe), Philia (Freundesliebe) und Agape (Herzensliebe). Vor allem Letztere sorgt immer wieder für Rührung im Kino. Früher sei die reine Liebe, ohne Begehren und ohne Interessen, eine Sache der Heiligen gewesen, bemerkte Seeßlen. „Weil es davon heute aber verteufelt wenig gibt, ist es, zumindest im Kino, eine Sache der Kinder und der Außerirdischen geworden“, sagte er und schickte der These die „E.T.“-Abschiedsszene auf Video hinterher.

Vielleicht war das überhaupt die beste Idee der gemeinsam von Jochen Wagner und dem Redakteur der Süddeutschen Zeitung, Oliver Fuchs, konzipierten Tagung: Der Tatsache, dass man über die Liebe nicht richtig was sagen kann, dadurch Rechnung zu tragen, dass man lieber über ihr Sichtbarwerden, also über die Techniken ihrer Visualisierung, spricht. Wie etwa in der Diskussion über Benjamin Quabecks Film, der das Wunder der ersten Liebe in all seiner Banalität und Großartigkeit zeigt.

Die kurzfristig als Ersatz für die verhinderten Hauptdarsteller von „Nichts bereuen“ eingeflogene Schauspielerin Jana Pallaske („Alaska.de“) erzählte von der Schwierigkeit, Liebe darzustellen. Denn der größte Fehler, den ein Schauspieler machen kann, ist, „daran zu denken, wie es aussieht“.

Performativ ging es auch bei Renate Daimlers etwas messianischem Vortrag „Heilende Beziehung“ zu, in welchem die österreichische Buchautorin und Radiomoderatorin Konfliktsituationen szenisch ausagierte. Als Spielpartner suchte sie sich den völlig überrumpelten Tagungsleiter aus, der sich einen Rucksack aufsetzen musste, der das „seelische Gepäck“ symbolisieren sollte, das wir alle mit uns herumschleppen. Das immer wieder schöne, aber schon aus den Sechzigerjahren bekannte Motto „Wollen Sie glücklich sein oder Recht haben“ wurde vom Rat suchenden Teil des Publikums dankbar beklatscht.

Gewinnbringender waren da die Lesungen der beiden Autoren Dagmar Leupold und Helge Timmerberg. Leupolds neuer Roman „Eden Plaza“ erzählt von einer Beziehung, die allmählich zerbröselt, bis sie eines Tages allen Zauber verloren hat. „Entzieht man der Liebe das Metaphysische“, notiert Leupold, „dann wird der Körper zur Ware, nach Handelsklassen eingeteilt.“ Und was ist dieses Metaphysische in der Liebe? Dass man bereit ist, „jemanden so wahrzunehmen, wie er sich selber ausdrückt“, sagt Leupold.

Doch sind nicht Menschen, die es schaffen, authentisch zu sein, am liebenswertesten? Wie der Pfarrer Jochen Wagner, der eigentlich Profifußballer werden wollte, dann aber doch lieber ein glücklicher Mensch geworden ist. Herr Wagner ist verheiratet und hat einen Sohn, der auf den Namen Janus hört. AXEL HENRICI