Die Geschichte einer Geste

Heute geht die Viennale zu Ende. Im aktuellen Programm zeigt sie das Beste aus Cannes und Venedig. Ihre wahre Stärke liegt in der Retrospektive. Dabei scheut das Wiener Festival weder den Grenzbereich von Kunst und Kino noch Horror aus Hollywood

von SVEN VON REDEN

„Aus unendlich vielen Splittern ein Ganzes schaffen“ will der Theaterregisseur Gérard bei seiner Inszenierung von Shakespeares „Perikles“. Doch das Stück wird nie aufgeführt, die Proben finden an ständig wechselnden Orten statt, Schauspieler springen ab, und der Regisseur scheint in Lebensgefahr. Trachtet ein internationaler Geheimbund nach seinem Leben? Das Theater und die Verschwörung, zwei Themen, die das Lebenswerk Jacques Rivettes durchziehen, bestimmen bereits seinen ersten Langfilm „Paris nous appartient“ (1958–60).

Die diesjährige Viennale widmete Rivette eine große Retrospektive und gewährte dem ehemaligen Chefredakteur der Cahiers du cinéma eine Carte blanche: Sechs Filme hat der – Truffaut zufolge – größte Filmfanatiker der filmfanatischen Nouvelle Vague ausgewählt, sie begleiten die Retrospektive. Rivettes Themen finden sich auch hier wieder: das Theater in Jean Renoirs „Carosse d'or“ und die Verschwörung in John Fords „The Long Voyage Home“. Darin gerät ein Matrose eines britischen Frachtschiffs während des Zweiten Weltkriegs unter Verdacht, ein deutscher Spion zu sein. Plötzlich wird jede seiner Handlungen verdächtig: Das Kästchen, das er unterm Kopfkissen versteckt, könnte eine Bombe sein, jedes Öffnen oder Schließen des Bullauges ein Lichtsignal an feindliche U-Boote. Wie bei „Paris nous appartient“ bricht das Konstrukt zusammen, die Splitter fügen sich nicht zum Ganzen, die Verschwörung bleibt Theorie. Rivette und Ford zeigen, was passiert, wenn der menschliche Drang, logische Verknüpfungen in einer chaotischen Welt herzustellen, ins Phantasmagorische getrieben wird.

Die Viennale mit ihren über 130 Filmen in ein großes Gedankengerüst zu zwängen, gelänge wohl auch nur Paranoikern. Alle anderen müssen sich an den Festivalkatalog halten. Hier sind sie fein säuberlich aufgelistet und kompetent kommentiert, die diesjährigen Tributes an die Schauspielerin Sissy Spacek, den Kameramann Ed Lachmann, den Regisseur Jürgen Böttcher; die Specials für die Filmkritikerin Frieda Grafe, den Schauspieler Turhan Bey, den Experimentalfilmer Klaus Wyborny; die Ausstellungen mit Filmprogrammen zu Yoko Ono und Antonin Artaud – und natürlich die aktuellen Produktionen. Davon waren viele schon in Venedig oder Cannes zu sehen, in Wien bekommt man eine Art Best-of dieser Festivals geboten – von Todd Haynes Melodram-Melange „Far From Heaven“ bis zu Alexander Sokurows formal atemberaubendem „Russki kowtscheg“.

Die Stärke der Viennale liegt im weit gefächerten Blick zurück, der weder vor den Grenzbereichen von Kino und Kunst Halt macht noch vor Horror aus Hollywood. Was im Katalog fein säuberlich getrennt ist, wird an einem Kinotag durcheinander geworfen, sodass sich neue Verknüpfungen bilden können jenseits von klassischen Kategorien wie Autor, Epoche, Genre. Die Splitter fügen sich nicht zu einem Ganzen, aber Teile passen plötzlich zusammen, die vorher weit voneinander entfernt lagen.

Die Geschichte einer Geste: Sissy Spacek steht blutüberströmt auf der Bühne einer Schulaula, die Arme steif am Körper, die Hände um 90 Grad abgewinkelt und die Finger zu Krallen verkrampft. Mit Hilfe ihrer übersinnlichen Kräfte lässt sie die Aula in Flammen aufgehen, um sich an ihren Mitschülern und Lehrern zu rächen: die bekannteste Sequenz aus Brian de Palmas „Carrie“ (1976), Vorbild für viele Teen-Horrorfilme. 50 Jahre früher: die gleiche Geste, diesmal bei einem Priester. „La coquille et le clergyman“ von Germaine Dulac, der einzige Film, der jemals nach einem Drehbuch von Antonin Artaud realisiert wurde: Der Priester steht an einer Säule, wenig später geht er in der Kirche einem General an die Gurgel, bis Blut von seiner Stirn fließt.

Die Surrealisten und Artaud warfen Dulac vor, das Drehbuch zu „La coquille et le clergyman“ „feminisiert“ und in einem Meer technischer Tricks ertränkt zu haben. Ebenso bezichtigte man Brian de Palma immer wieder eines hohlen Budenzaubers. Aus der zeitlichen Distanz verpuffen beide Vorwürfe: Während man bei Dulac heute die handwerkliche Qualität und die Freude am technischen Experiment bewundert, wirken de Palmas Split-Screens, Weichzeichner-Aufnahmen und extreme Tiefenschärfen heute wunderbar camp.

Sissy Spacek begann ihre Karriere als Sängerin, eine Erfahrung, die ihr später, bei ihrer Oscar-gekrönten Darstellung des Country-Stars Loretta Lynn in „Coal Miner’s Daughter“ (1980), nützlich sein sollte. Ende der 60er-Jahre veröffentlichte Spacek ihre einzige Single mit dem Titel „John, You've Gone too Far this Time“, der sich auf das Skandalcover von Yoko Onos und John Lennons „Two Virgins“ bezog, das das Paar in frontaler Nacktaufnahme zeigt. Yoko Ono, einst eine der meistgehassten Frauen des Planeten, ist längst als Musikerin und Wegbereiterin diverser Alternative- und Riot-Grrrl-Bands rehabilitiert. Die Viennale zeigt, dass es Zeit wird, sie auch als Filmemacherin zu würdigen. In „Rape“, eine Produktion für den ORF, verfolgt ein Kameramann wortlos ein Hippiemädchen durch London bis in ihre Wohnung. Zunächst scheint die Frau amüsiert, dann genervt, am Ende, als die Kamera in ihre Wohnung eindringt, panisch. Ein schlechter Scherz wird zu beklemmendem Horror. Mit seiner wackeligen Handkamera und den scheinbar uninszenierten Bildern könnte der Film fast eine Vorwegnahme des „Blair Witch Project“ sein – mit der Kamera in der Rolle der Hexe. Der Film wirkt wie eine Rache Onos an Medien und Beatles-Fans, sie dreht einfach die Beobachtungssituation um. „Ihr müsst mich verwechseln, ich bin kein Star“, sagt das Mädchen, als sie merkt, dass die Kamera sie verfolgt.

„Stars“ (1963) heißt ein früher Film des DDR-Dokumentarfilmers Jürgen Böttcher, in dem er den Arbeitsalltag der Frauen eines Berliner Glühlampenwerks beobachtet. „Ihr seid unsere Stars, nicht Soraya, Bardot oder Kleopatra“, erklärt Böttcher zu Beginn aus dem Off. Immer wieder hat er im Laufe seiner Karriere einfühlsame Filme über „einfache“ Arbeiter gemacht, meist Frauen, die auf Schutthalden arbeiten, in Großküchen oder Wäschereien. Aus heutiger Sicht ist kaum nachzuvollziehen, warum so viele seiner Filme verboten wurden, merkt man ihnen doch den grundsätzlichen Glauben des Regisseurs an die Fortschrittlichkeit des Systems an. Doch Böttchers Realismus und Humanismus war den Parteifunktionären unheimlich. In Defa-Filmen sollte gezeigt werden, wie es sein wird, nicht wie es ist. „Ein Staat, der solche Filme verbietet, kann nur ängstlich sein“, erklärte ein immer noch sichtlich erschütterter Böttcher nach der Vorführung seiner frühen Kurzfilme. „Wir waren doch die rührendsten naiven Sozialisten.“

Doch wie für die Matrosen in „The Long Voyage Home“ wurde für die DDR-Funktionäre jeder harmlose Alltagsgegenstand zur Bombe. Ein Staat, der derart paranoid Wahrnehmungssplitter zu einem großen Ganzen zusammenbaute, bis aus Freunden Feinde wurden, konnte wohl nur zusammenbrechen.