„Die Gesellschaft hat eine Lektion erhalten“

Ein Gespräch mit der glücklosen Unterhändlerin Anna Politowskaja über die vertane Möglichkeit, das Geiseldrama unblutig zu beenden

Sie sagen, dass alles hätte friedlich vonstatten gehen und beendet werden können...?

Anna Politowskaja: Man hätte alle befreien können, bevor es dutzende von Toten gab. Das ist nicht gelungen. Es wäre besser gewesen, überhaupt nicht zu verhandeln. Die Geiselnehmer haben vor allem zwei Dinge gefordert, um die Geiseln freizulassen: erstens ein Wort Putins im Fernsehen, dass der Krieg beendet werden wird. Ich habe sie gefragt: Wollt ihr, dass das ein Dekret ist? Doch dafür ist es schwierig, eine Unterschrift zu bekommen … Nein, sagten sie, nur das Wort Putins, dass der Krieg beendet wird.

Zweitens: 24 Stunden nach dem Wort Putins einen ersten konkreten Schritt – das heißt den Abzug russischer Truppen aus konkreten Regionen Tschetscheniens. Diese Forderung hätte man erfüllen können, weil es Regionen gibt, wo nur wenige Truppen stationiert sind. Und die von dort abzuziehen ist nicht schwierig. Das hätte die Möglichkeit eröffnet, innerhalb von nur 48 Stunden alles zu erfüllen, was sie forderten. Weil, sobald diese beiden Forderungen erfüllt worden wären, wären – als dritter Schritt – alle Geiseln freigelassen worden ohne Verhandlungen und weitere Forderungen. Viertens, das war weder ein Punkt des Plans noch eine Forderung, wären die Geiselnehmer im Theater geblieben. Es war unklar: Wollen sie wegfliegen oder weggehen? Ich habe sie gefragt: „Wollt ihr Geld, ein Flugzeug nach Saudi-Arabien?“ – „Nein, wir wollen weiterkämpfen und im Kampf sterben, wir verstehen sehr gut, dass wir nichts sind im Vergleich zur Alpha, die dieses Theater stürmen wird, aber wir werden hier bleiben, um im Kampf zu sterben.“ Es war klar, das das Ganze für sie einen religiösen Sinn hatte.

Wer hat den Sturmbefehl gegeben?

Offiziell der General des FSB, Pronischew, der für diese Aktion zuständig war. Inoffiziell zweifelt niemand daran, dass es Putin selbst war. Die Gesellschaft hat eine Lektion erhalten, ihr wurden die Augen geöffnet. Der Preis dafür waren dutzende von Leben, die hätten gerettet werden können – und das, ohne die Würde der Macht zu beschädigen. Wissen Sie, mich hat das Verhalten von Kadyrow [gemeint ist Achmed Kadyrow, Statthalter Russlands in Tschetschenien; d. Red.] sehr enttäuscht. Im Tausch gegen ihn hätten die Rebellen 50 Geiseln freigelassen, doch er kam nicht. Er wäre dazu verpflichtet gewesen. Die Angst um die eigene Haut war so groß, dass sie alle andere Gefühle erstickt hat.

Man sagt, dass im Theater Flaschen mit Alkohol, Spritzen und Drogen gefunden wurden.

Den ersten Kontakt hatte ich am Telefon, und ich hatte den gleichen Eindruck. Am Telefon faselten sie nur. Sie redeten wie Heroinabhängige, undeutlich, wiederholten sich immer, das Gespräch drehte sich im Kreis. Ich dachte nur: Mit wem wirst du reden? Mit Menschen, die nicht zuhören! Doch als ich ankam, sah ich in klare Augen. Sagen wir so: bei denjenigen, mit denen ich Kontakt hatte. Und das waren selbstverständlich nicht alle. Kognak stand unberührt da, und niemand wirkte, als ob er Drogen genommen hätte.

Also Kognak gab es?

Der stand da – was eben in einem Gebäude passieren kann, in dem es einen Getränkestand gibt. Dort wurde auch ein Fernsehinterview aufgenommen. Dort hatten die Rebellen auch ihren Kommandopunkt eingerichtet. Dort habe ich auch gesessen, dort fanden lange Verhandlungen statt, dorthin wurden die Geiseln gebracht, die übergeben werden sollten, dorthin kamen auch die tschetschenischen Witwen, die auch unter den Geiselnehmern waren.

Haben Sie mit den Frauen gesprochen?

Ja. Sie haben ganz normal geantwortet. Der Mann ist getötet worden, der Bruder verschwunden, der Onkel erschossen – das ganze Spektrum der tschetschenischen Tragödie. Was soll man sagen? Ich habe diese Frauen gefragt: Wissen eure Verwandten zu Hause, wo ihr seid? Eure Kinder? Ich habe versucht, bei ihnen Emotionen zu wecken. „Nein“, haben sie geantwortet, „zu Hause wissen sie nichts. Die Tschetschenen handeln viel und verlassen oft ihre Heimat. Bei uns glauben alle, dass wir auf dem Markt sind. Niemand macht sich Sorgen“. Ich habe einen Mann gefragt: Aber das sind eure Frauen, sie haben Kinder, Familien. Was wird werden? Und es war für mich wie eine Offenbarung, dass er da in Tränen ausbrach.

Dieses Interview erschien erstmalig in der russischen Tageszeitung Nowaja Gaseta. Für die taz wurde es übersetzt von Barbara Oertel.