Der ruhige Ernst des Provokateurs

Stur gegen die Skandalmaschine: In Moskau wird der Schriftsteller Wladimir Sorokin von der Staatsanwaltschaft verfolgt. Doch bei seiner Lesung in Berlin mochte er nicht in die erwartete Rolle des aufsässigen Autors schlüpfen

Schon vor Beginn der Veranstaltung wurde die Atemluft bedenklich dünn im Literarischen Colloquium Berlin. Spät kommende Besucher drehten entmutigt wieder ab angesichts der Schenkel an Schenkel zusammengepferchten Menschenmasse. Männer mit Fotoapparaten belegten die vorderen Plätze. Sogar das Fernsehen war da, als am Dienstag der russische Autor Wladimir Sorokin zu einer Lesung vor die Menge trat. Das hat man nicht alle Tage. Sorokin war zwar hierzulande schon ein recht bekannter Autor, bevor die Moskauer Staatsanwaltschaft Anklage wegen angeblich pornografischer Passagen in seinem Roman „Der himmelblaue Speck“ erhob. Doch während sich früher in seinen deutschen Lesungen lediglich das übliche Häufchen Slawisten, Russen und anderer exotistisch orientierter Literaturjunkies verlor, ist sein Auftritt nun ein Event.

Dafür kann er natürlich nichts. Und wer sich den Autor unter dem Eindruck dessen, was über seine Bücher in den Medien zu lesen war, als postpubertären Provokateur vorgestellt hatte, der konnte diese Einschätzung revidieren angesichts des ruhigen, bedächtig formulierenden Mannes in Schwarz, der ernst neben dem Herzlichkeit versprühenden Ingo Schulze auf dem Podium saß.

Sicher ist es gut, dass die Organisatoren an der üblichen Form der Lesung festhielten: Immerhin geht es um Literatur. Neben der Erzählung „Hiroshima“, die vor allem vom Sich-gegenseitig-Würgen als sublimierter Form sexueller Erregung handelt, kam die strafrechtlich relevant gewordene Passage aus „Der himmelblaue Speck“ zum Vortrag. Wenn aber ein Schriftsteller zum Medienstar wird, dann möchte man ihn nicht nur aus seinen Texten lesen hören, sondern ihn vor allem auch was fragen dürfen. Die so theatralischen wie Besorgnis erregenden Umstände, die Sorokins Popularität in neue Dimensionen steigerten, machen ihn auch zu einem politischen Symbol. Dass er alles, aber nur das nicht sein möchte und der Letzte ist, der uns Russland erklärt, wurde an diesem Abend jedoch klar. Schulze stellte Fragen, und Sorokin sagte poetische Dinge wie „die Literatur ist eine Droge“ und „die klassische russische Literatur war ein eingefrorener Riese, der so lange aufrecht stand, wie der Kühlschrank Sowjetunion funktionierte“. Der Prozess gegen ihn speise sich aus der Literaturzentriertheit in seinem Land, wo die Leser sich einen Mord im Roman ebenso zu Herzen nähmen wie in der Wirklichkeit. In Russland gewinne die Literatur immer dann an Bedeutung, wenn eine leichte politische Vereisung eintrete und keine großen Erschütterungen zu spüren seien. So wie jetzt. Da ging ein Raunen durch die Menge, und auch die Dolmetscherin fragte verdutzt nach. Als schließlich nur noch Zeit für genau zwei Publikumsfragen gewährt wurde, stand eine Russin auf, um sich erregt zu erkundigen, ob er das wirklich ernst gemeint habe. Und Sorokins Antwort, die Umwälzungen unter Gorbatschow hätten weltumspannende Bedeutung gehabt, die derzeitigen Ereignisse dagegen nur lokale, konnte die spürbare Unzufriedenheit des Publikums mit dem Dichter nicht wesentlich lindern.

Als vielleicht lehrreichster Eindruck des Abends bleibt hängen, wie wenig sich dieser ernsthafte Mensch auf dem Podium zusammenbringen lässt mit seinem postmodernen, dem Spiel mit dem Uneigentlichen verfallenen Werk. Die Frage, ob die Aktionen der Putin-Jugend nicht auch prima PR für ihn gewesen seien, wies Sorokin sichtlich getroffen zurück. Für einen Autor sei auch eine symbolische Buchschändung das Schlimmste, was ihm passieren könnte. – Eine ironische Sicht der Dinge ist im Russland dieser Tage wohl auch nicht wirklich angebracht.

KATHARINA GRANZIN