Magie und Wunderheilung

An der Universität Graz trafen sich Heilpraktiker und Mediziner, um die traditionelle „tibetische Medizin“ auf den Prüfstandzu stellen. Was ist tatsächlich dran an der Alternativmedizin, die sich auch bei uns einer zunehmenden Beliebtheit erfreut?

Auch getrocknetes Schafshirn oder gemahleneTigerzähnewerden verwendet

von COLIN GOLDNER

Als krönender Abschluss eines 12-tägigen tantrisch-buddhistischen Mysterienrituals, das der Dalai Lama Mitte Oktober 2002 in der steirischen Landeshauptstadt Graz aufgeführt hatte, fand an selbem Orte eine Art Herabkunft des Metaphysischen ins „Wissenschaftliche“ statt: Vier Tage lang wurde die traditionelle „tibetische Medizin“ auf den Prüfstand gestellt und auf ihre Brauchbarkeit für die westliche Heilkunde hin untersucht. Zumindest war dies der Anspruch, mit dem alternativmedizinisch tätige Therapeuten und Heilpraktiker an der Universität Graz zusammengekommen waren.

Tatsächlich war das Ganze alles andere als Wissenschaft. Der erste Tag umfasste eine „Langlebenszeremonie“ für den Dalai Lama, der dieser höchstpersönlich vorsaß. Am zweiten Tag dann Vorträge tibetischer Heilkundiger, am dritten und vierten ein paar Workshops, auch von westlichen Homöopathen und Heilern. Zu einer wirklichen „Begegnung zwischen östlicher und westlicher Medizin“, wie das Programm verhieß, kam es nicht. Eine kritische Auseinandersetzung scheiterte schon an den Sprachbarrieren – und an der Bereitschaft der Kongressteilnehmer, selbst größten Unsinn unwidersprochen stehen zu lassen.

Worum also geht es bei der „Heilkunst vom Dach der Welt“, die sich in den letzten Jahren auch im westlichen Alternativmilieu etabliert hat?

Die tibetische Medizin stellt ein hermetisch in sich geschlossenes System dar. Laut Legende verfügt sie über eine ungebrochene Tradition von zumindest zweieinhalbtausend Jahren, die auf den „historischen“ Buddha selbst zurückreicht. Tatsächlich ist sie keineswegs so „altehrwürdig“ wie sie vorgibt. Ihre Ursprünge datieren längstens ins 11. Jahrhundert zurück, in dem ein Wunderheiler namens Yuthog die schamanischen Riten des bis dahin in Tibet vorherrschenden Geister- und Dämonenglaubens mit Bruchstücken indischer beziehungsweise chinesischer Heilkunst, wie sie schon seit dem 8. Jahrhundert in Umlauf waren, zu einer Art medizinischem Kompendium zusammenführte.

Darauf aufbauend wurde unter der Ägide des Fünften Dalai Lama (1617–1682) ein schriftlich fixiertes Lehrgebäude errichtet, das seitdem keinerlei Veränderung oder Weiterentwicklung mehr erfuhr. Bis heute verbringen die angehenden (Mönchs-)Ärzte die ersten Jahre ihrer Ausbildung ausschließlich damit, die Lehrtexte aus dem 17. Jahrhundert – es handelt sich um 156 Kapitel mit 5.900 Versen – auswendig zu lernen. Allein diese Verse zu pauken bedeutet einen Studienaufwand von zehn bis fünfzehn Jahren.

Die tibetische Medizin, bekannt als Sowa Rigpa, beruht auf der Vorstellung, der menschliche Organismus spiegele das Ordnungssystem des gesamten Kosmos wider und sei wie dieser zusammengesetzt aus den fünf Elementen Feuer, Wasser, Luft, Erde und Raum. Hergeleitet aus diesen Elementen bestimmten drei energetische Regelsysteme („Körpersäfte“) jedwedes organismische Geschehen: Lung (Wind: Luft/Raum) steuert Atmung, Bewegung und Nerventätigkeit, Tripa (Galle: Feuer/Wasser) Verdauung und Stoffwechsel, Bäkän (Schleim: Wasser/Erde) das Lymph- und Immunsystem. Das Verhältnis der drei Regelsysteme und ihrer jeweils fünf Untersysteme zueinander bestimme die Konstitution und die individuellen Eigenschaften des Menschen. Schon die kleinste Abweichung im harmonischen Zusammenspiel von Lung, Tripa und Bäkän führe zu Störungen und Erkrankungen.

Ursache solcher Abweichung sei allemal eines der drei „Geistesgifte“: Eine Lung-Abweichung entstehe aus Gier, eine Tripa-Abweichung aus Hass und eine Bäkän-Abweichung aus Verblendung. Mittel Pulsdiagnose könne die ursprüngliche „Drei-Säfte- Konstitution“ sowie eventuelle Abweichungen davon festgestellt werden, was Hinweise auf eine vorliegende oder sich anbahnende Erkrankung gebe.

Als zentrales Diagnoseverfahren der tibetischen Heilkunde gilt besagte Pulsdiagnose: mittels kurzen Abtastens der Arterie am Handgelenk des Patienten sei der Arzt in der Lage, jede Erkrankung zweifelsfrei zu erkennen. Selbst die Lebenserwartung des Patienten sei über den Puls exakt ablesbar. Sogar mittels Ferndiagnose soll der Puls untersucht werden können.

Die tibetische Heilkunde beschreibt angeblich 84.000 verschiedene Krankheiten. Diese sind zusammengefasst in vierhundertvier Kategorien, von denen dreihundertunddrei die prinzipiell heilbaren Erkrankungen beinhalten. Zwei Drittel davon ließen sich allein durch richtiges Denken und Verhalten beziehungsweise durch ärztliche Behandlung oder durch die richtigen Arzneimittel beheben. Das restliche Drittel sei durch böse Geister und Dämonen hervorgerufen – insgesamt gebe es exakt 1.080 davon –, hier sei die Durchführung exorzistischer Reinigungsrituale vonnöten. Die verbleibenden einhundertein Kategeorien seien karmisch bedingt und damit – zumindest in diesem Leben – unheilbar.

Zu den Behandlungsmethoden der tibetischen Medizin zählt neben allgemeinen und diätetischen Verhaltensmaßgaben vor allem die Verabreichung von Arzneimitteln; hinzu kommt der gelegentliche Einsatz von Abführmitteln, Brechmitteln, Inhalationen oder Klistieren. Über die „internen“ Behandlungen hinaus kennt die tibetische Heilkunde eine ganze Reihe „externer“ Maßnahmen, von Schröpfkuren und Aderlass bis hin zur Akupunktur. Eingebunden sind sämtliche Behandlungsformen in ein magisch-mystisches Brimborium von Handauflegungen, Gebeten, Visualisierungsübungen sowie dem Rezitieren wundertätiger Heilmantras.

Die Arzneimittel der tibetischen Medizin werden nach traditionellen Rezepturen und unter Berücksichtigung astrologischer Gegebenheiten hergestellt. Sie setzen sich aus jeweils bis zu hundert verschiedenen Inhaltsstoffen zusammen: Pflanzen, Minerale, aber auch getrocknetes Schafshirn oder gemahlene Tigerzähne; auch hochgiftige Substanzen wie Schwefel, Blei oder Quecksilber werden verwendet. Als besonders heilkräftig gelten bis heute Präparate, die aus den Exkrementen hochrangiger Lamas hergestellt wurden.

Bislang ist kein einziges tibetisches Arzneimittel auf seine Wirkungen und Nebenwirkungen hin wissenschaftlich untersucht worden. Von ihrem Gebrauch – sie sind in der Alternativheilerszene weitverbreitet, insbesondere zur Behandlung von Aids – ist dringend abzuraten. Die von einer Schweizer Firma hergestellte tibetische Wunderpille „Padma 28“ zum Beispiel besteht wesentlich aus Baldrian, Vogelknöterich und Kalziumsulfat, sprich: Gips.

Der Dalai Lama selbst scheint hingegen von tibetischer Medizin nicht allzu viel zu halten: als er Anfang 2002 im Norden Indiens an einer akuten Darmentzündung erkrankte, ließ er sich keineswegs von tibetischen Heilkundigen behandeln, vielmehr begab er sich auf schnellstem Wege in das hochmoderne, nach westlich-wissenschaftlichem Standard ausgerüstete Lilavati-Hospital in Mumbai, wo er mit Antibiotika kuriert wurde.