Postproletarische Sentimentalitäten

God save the Queen, weil sie Michael Caine und Tom Courtenay längst zum Ritter schlug. In Fred Schepisis Kinofilm „Letzte Runde“ sind die Helden des Free Cinema allerdings alt und zahm geworden

von PHILIPP BÜHLER

Drei Helden der Arbeiterklasse starren auf einen Pappkarton. In dem Pappkarton steckt Jack, der Vierte im Bunde, beziehungsweise in dem Pappkarton steckt eine Urne mit seiner Asche. Das ist etwas, was seine alten Freunde gewaltig zum Nachdenken bringt. Jahrzehntelang haben sie hier im Südlondoner Pub „Coach & Horses“ um die Wette gesoffen, und jetzt ist es aus.

Statt einer letzten Runde gibt es einen letzten Willen. Jack will im Meer verstreut werden, bei Margate, wo er mit seiner Frau Amy die Flitterwochen verbrachte. Vic (Tom Courtenay), Freund und Totengräber in einer Person, hat schon alles vorbereitet. Der traurige Rest steigt in den schicken Mercedes von Jacks Sohn Vince (Ray Winstone), dem Autoverkäufer. Lenny (David Hemmings), der Gemüsehändler. Ray (Bob Hoskins), der milde Zecher. Kurz gesagt: Die oft zitierte Nation von Ladenbesitzern macht sich auf den Weg, tankt immer mal wieder kräftig nach und taucht ganz tief in die Vergangenheit. Jack (Michael Caine), der Metzger, ist immer dabei. Und in vielen Rückblenden erfahren wir, dass es das Leben doch mit allen gut gemeint hat. Fronterlebnisse und Familienprobleme, all das ist vom Australier Fred Schepisi („Das Russlandhaus“) mit so knorrigem Charme und doch elegisch inszeniert, dass man es gerne erträgt. Britisch eben. God save the Queen, die so fabelhafte Schauspieler wie Caine und Courtenay längst zum Ritter geschlagen hat.

War da was? Spätestens wenn die vier dem Royal Naval Memorial in Chatham ihre Ehre erweisen, will man sich die Vergangenheit doch mal etwas genauer betrachten. Hier versammeln sich die Leinwandhelden einer ganzen Generation von Angry Young Men. Im Free Cinema der Nachkriegszeit herrschte das uncertain feeling von Aufbruch, Resignation, Rebellion, Wut. Aber Patriotismus und kleinbürgerliches Einverständnis? In „Die Einsamkeit des Langstreckenläufers“ rannte Tom Courtenay gegen ein lückenlos verzahntes Schul- und Gefängnissystem. Als träumerischer „Billy Liar“ wollte er alles werden, bloß eben nicht Totengräber. Michael Caine, immer eine Klasse für sich, gab den superzynischen Anti-Bond Harry Palmer, den ersten Geheimagenten mit Brille. In seinen Rollen mochte er keine Frauen und keine Vorgesetzten, ansonsten war ihm alles egal. Jetzt spielt er „Papa“ Jack, der seinen Sohn zur Übernahme seiner Fleischerei drängen will. Von David Hemmings als amoralischem Modefotografen einst in „Blow-Up“ ganz zu schweigen.

Die Enttäuschung rührt natürlich daher, das alles bestens zusammenpasst. Nicht nur die englische Gesellschaft hat sich verändert: Thatcherismus, Niedergang der Working Class, Shopkeeper-Mentalität statt Subversion. Die Stars selbst haben – mit Ausnahme des stillen Courtenay, der zwölf Jahre vom Film nichts wissen wollte – seitdem ihren guten Ruf ruiniert. Caine in billigen Nazifilmen. Das Popidol Hemmings als Regisseur der erzreaktionären Actionserie „Das A-Team“. Bob Hoskins, der mit „Rififi am Karfreitag“ immerhin den harten britischen Gangsterfilm lieferte, den Guy Ritchie nie hinkriegen wird, ging als sympathischer Charmeur nach Hollywood. In „Letzte Runde“ spielt er die Rolle seines Lebens: den ewigen Witwentröster.

Denn der weiche Kern des Films besteht nicht nur aus den nostalgischen Rückblenden, in denen junge Nobodys als Doubles auftreten. Es gibt eine anrührende Geschichte, die vermutlich näher am englischen Alltag und seinen Menschen ist als sämtliche Filme der Swinging Sixties zusammen. Amy ist der eigentliche Star und Helen Mirren („Gosford Park“) das schlechte Gewissen ihrer langjährigen Arbeitskollegen.

Während die sich im Pub tummelten, musste sich Amy um eine geistig behinderte Tochter kümmern. Jack wollte diese Missgeburt im Heim nie wieder sehen. Um seine Frau nicht auf einem Haufen Schulden sitzen zu lassen, bittet der reuige Rabenvater den begnadeten Zocker Ray um einen letzten Gefallen: „Für Amy“ soll er ein letztes Mal zum Pferderennen gehen. Das ist schön, solidarisch, erfolgreich. Und mehr als eine postproletarische „Hope & Glory“-Sentimentalität gibt der dem Film zugrunde liegende Roman von Graham Smith wohl wirklich nicht her. Doch im Blick auf das traditionelle britische Kino wirkt diese Aussöhnung mit dem eigenen Alter, bekanntlich vornehmste Aufgabe des Menschen, wie ein lange überfälliger Bruch. Friede seiner Asche.

„Letzte Runde“. Regie: Fred Schepisi. Mit Michael Caine, Tom Courtenay, David Hemmings, Bob Hoskins, Helen Mirren, Ray Winstone u. a., Großbritannien/Deutschland 2001, 109 Min.