Lohndumping mit Gottes Gnade

Vier amtierende und drei ehemalige Verfassungsrichter diskutieren über die Kirchen als rechtsfreie Räume

BERLIN taz ■ Es klingt nach Bananenrepublik, es passiert in Deutschland. Der zweitgrößte Arbeitgeber (nach dem Staat) muss sich nicht an das allgemeine Arbeitsrecht halten, ja nicht einmal die Grundrechte seiner Beschäftigten beachten: die Kirchen. In ihren Diensten stehen rund 1,3 Millionen Menschen – ohne Streikrecht, ohne Betriebsräte und mit ungewöhnlichen Loyalitätspflichten. Der Ex-Bundesverfassungsrichter Jürgen Kühling will das ändern.

Als Vorstand der Humanistischen Union, einer altehrwürdigen, aber auch etwas kirchenkritischen Bürgerrechtsorganisation, hat Kühling am Wochenende zum ersten Mal die „Berliner Gespräche zu Staat, Religion und Weltanschauung“ organisiert – zur Kirche und ihrem Arbeitsrecht. Bisher haben Gesetzgeber und Gerichte das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen fast stets höher gewertet als entgegenstehende Rechte anderer. So darf die Kirche Beschäftigte entlassen, wenn sie aus der Kirche austreten, homosexuell sind, einen Geschiedenen heiraten oder Leserbriefe schreiben, die mit der kirchlichen Abtreibungspolitik nicht konform gehen.

Wenn es nach Axel von Campenhausen, dem führenden deutschen Staatskirchenrechtler, geht, soll sich der Staat auch künftig aus den inneren Angelegenheiten der Kirche heraushalten. „Wer Frauen als Priester will, soll evangelisch werden – aber nicht das bewährte Verhältnis von Staat und Kirche in Frage stellen“, sagte er in Berlin.

Der Streit entzündete sich allerdings weniger an den rund 36.000 Geistlichen in Deutschland, sondern vielmehr an den über eine Million Beschäftigten in den Sozialeinrichtungen von Diakonie und Caritas. Hier könnten die Kirchen sicher eher abweichendes Verhalten akzeptieren, ohne dass ihre Glaubwürdigkeit leidet. „Die Gerichte haben bisher allerdings gegenüber den Grundrechten dieser Beschäftigten eine gewisse Blindheit an den Tag gelegt“, kritisiert Kühling. Und Dieter Grimm, ebenfalls Exverfassungsrichter, schlägt vor, künftig die Rechte von Kirche und Beschäftigten im Einzelfall „abzuwägen“. Derzeit gilt allenfalls eine Kontrolle auf grobe Willkür, wie der kirchennahe Arbeitsrechtler Gregor Thüsing erläuterte.

Sonderregeln gelten für die Kirche bisher auch im kollektiven Arbeitsrecht. Es sei mit dem kirchlichen Verständnis einer „Dienstgemeinschaft“ nicht zu vereinbaren, so heißt es, Druck auf den Arbeitgeber auszuüben – weshalb kirchlich Bedienstete nicht streiken dürfen. Jetzt hat der Sparzwang auch die Kirchen erreicht. „Das Fehlen von Druckmitteln führt nun faktisch zu Lohndumping“, kritisierte der Rechtsanwalt Bernhard Baumann-Czichon. Das Dumping strahle auf die ganze Sozialbranche aus, schließlich beträgt der „Marktanteil“ kirchlicher Einrichtungen in der freien Wohlfahrtspflege rund 80 Prozent.

„Darf der Staat mit seinem Geld überhaupt Institutionen unterstützen, die die Grundrechte zurückdrängen?“, fragte die amtierende Verfassungsrichterin Renate Jaeger provokant. Sie erinnerte daran, dass die öffentliche Hand den Kirchen rund 90 Prozent der Kosten ihrer Sozialeinrichtungen erstattet und nur ein kleiner Rest von ihnen selbst finanziert wird. Doch statt seinen Einfluss zu nutzen, reduziert auch der Staat lieber Kosten – und überlässt den günstigen kirchlichen Anbietern immer öfter das Feld. Veränderung, glaubt Kühling, wird darum erst eine Veränderung der Rechtsprechung bringen. CHRISTIAN RATH