Chronik eines Alibis

Der algerische Schriftsteller Boualem Sansal schildert in seinem Roman „Das verrückte Kind aus dem hohlen Baum“ die gespaltene Persönlichkeit seines Heimatlandes

Warum ist aus einem hohen Beamten des Industrieminsteriums ein Schriftsteller geworden? „Während die Wahrheit den Bruchteil einer Sekunde braucht, um zu explodieren“, sagt der ehemalige algerische Regierungsbeamte Boualem Sansal, „benötigt man ein ganzes Leben und oft mehr, um wieder Ordnung in seine Gedanken zu bringen.“ Mit scharfem Blick sucht Sansal in seinem zweiten Roman weiter nach einem Weg „fern von den Lügnern“. Einmal mehr analysiert er in „Das verrückte Kind aus dem hohlen Baum“ seine Heimat, die seit zehn Jahren in einem blutigen Bürgerkrieg versunken ist.

In Zelle 517 im Gefängnis von Lambèse führen zwei zum Tode Verurteilte einen eigenwilligen Dialog: der zur Zeit des Unabhängigkeitskrieges geborene Franzose Pierre Chaumet und Farid, ein junger Mann aus dem Umland Algiers. Pierre kam zurück nach Algerien, um seine Wurzeln zu suchen, und fand stattdessen Gewalt und Korruption. Und Farid ist einer von vielen, die die Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaft in den islamistischen Untergrund trieb.

Pierre und Farid – das sind Frankreich und Algerien, die Vergangenheit und die Gegenwart, verschiedene Wertesysteme und Weltanschauungen – „zwei Facetten der algerischen Persönlichkeit, zwei Facetten, die sich ablehnen, die sich verneinen, beleidigen und verachten“.

Sansal, der wie die meisten algerischen Schriftsteller in Französisch schreibt, zeichnet ein komplexes Bild einer Gesellschaft, „wo das Leichte kompliziert ist, wenn man genauer hinschaut“. Er beschreibt ein Land der Lügen, des Horrors, der Ungerechtigkeit und, was am schwersten wiegt, der Ausweglosigkeit.

„Wenn das Volk aufbegehrt, fördern sie das Aufbegehren, um es zur Routine zu machen“, schreibt Sansal, „und das Volk, das glaubt auf diese Weise eine Veränderung zum Besseren voranzutreiben, reibt sich auf, ohne es zu merken. Wenn es verstummt, schaffen sie Schweigen, um es zu entmutigen.“ – „Sie“, das sind die mächtigen Generäle: „Einschläfern, das ist ihr Trick.“

Sansal ist mutig. Ohne Pseudonym und ohne im Exil zu leben schreibt er über die Zustände in seiner Heimat. Sein bissiger, satirischer Ton spart niemanden aus: die Generäle nicht und auch nicht die Islamisten, nicht die Vertreter der Einheitspartei FLN, die einheimischen Schmuggler oder die ausländischen Investoren, die ganz gut mit der Tragödie leben. Auch die französischen Politiker, die ebenso wegschauen wie die Vertreter der Vereinten Nationen, finden sich wieder.

„Das verrückte Kind im hohlen Baum“ ist weit mehr als die zynische Zustandsbeschreibung einer nicht enden wollenden Barbarei. Sansal versteht es, die menschlichen Tugenden und Defekte herauszuarbeiten, die vom Leben im Konflikt nur noch verstärkt werden. Die algerische Tragodie wird zum universellen Beispiel: „Die Geschichte ist keine Geschichte, wenn die Kriminellen die Tinte anrühren und die Feder führen. Sie ist vielmehr die Chronik ihres Alibis. Und die, die sie lesen, ohne dass es ihnen das Herz bricht, sind falsche Zeugen“, schrieb Sansal in seinem ersten Roman „Les Serment des Barbares“. Unter dem Titel „Der Schwur des Barbaren“ soll es noch diesen Winter auf Deutsch erscheinen. REINER WANDLER

Boualem Sansal: „Das verrückte Kind aus dem hohlen Baum.“ Aus dem Französischen von Riek Walther. Merlin-Verlag, Vastorf 2002, 260 S., 23 €