Ein Zelt für die Ewigkeit

Auf das Erdbeben in Süditalien folgt die alltägliche Katastrophe staatlichen Versagens. Die eilig errichteten Notunterkünfte in den „Tendopoli“ sind ihr augenfälligster Ausdruck

Keine Sprache hält für Krisenfälle schönere Ausdrücke bereit als das Italienische. Tendopoli ist ein solcher Begriff, und die Medien des Landes benutzen ihn nach dem Erdbeben in der Region Molise mit Hingabe. Er steht, wie das Wörterbuch verrät, für einen „sehr ausgedehnten oder überfüllten Campingplatz“ – oder eben, im übertragenen Sinn, für eine „Anhäufung von Zelten, besonders im Unglücksfall“.

Mehr als 10.000 Menschen wurden bei dem Beben in der vergangenen Woche obdachlos, und eilig wurden Notunterkünfte errichtet. So gut wie die Fernsehzuschauer wissen auch die Bewohner der Tendopoli selbst: So schnell werden sie nicht in feste Behausungen zurückkehren. Auf die plötzliche Naturkatastrophe folgt die alltägliche Katastrophe staatlichen Versagens, und das Phänomen der Zeltstadt ist ihr augenfälligstes Symptom.

In Sizilien gibt es noch heute Familien, die in jenen provisorischen Baracken hausen, die nach dem großen Erdbeben von Messina im Jahr 1908 errichtet wurden. Und selbst in Umbrien, weit entfernt vom Schlendrian des Südens, erinnern Notunterkünfte an das Beben von 1997 – auch wenn die restaurierte Basilika von Assisi gerade erst mit großem Pomp eröffnet wurde.

Ähnlich war es jetzt in San Giuliano di Puglia, jenem kleinen Dorf in Molise, wo 29 Menschen beim Einsturz der Grundschule ums Leben kamen. Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi reiste eigens zur Beerdigung der Opfer in die entlegene Region, und Ministerpräsident Silvio Berlusconi versprach einen üppigen Wiederaufbau nach dem Muster des reichen Mailänder Hinterlands. Der Premier sei „unermüdlich in seiner Unkenntnis des Landes, das er regiert“, höhnte daraufhin der Publizist Giorgio Bocca.

Neu ist die Maßlosigkeit der Versprechungen, nicht die Erkenntnis, dass sie nie und nimmer erfüllt werden. Das Prinzip ist immer das gleiche: Die versprochenen Hilfsgelder kommen entweder überhaupt nicht, oder sie versickern in dunklen Kanälen. Dass auf den Staat kein Verlass ist, wissen die Bewohner des unterentwickelten Mezzogiorno seit Jahrhunderten. Sie vertrauen lieber auf die Familie – im wörtlichen, aber auch im übertragenen Sinn. Strukturen wie die sizilianische Mafia oder die neapolitanische Camorra besetzen das Vakuum, das durch die Abwesenheit des Staates verursacht wird.

Den bürokratischen Apparat des italienischen Nationalstaats begreifen viele Süditaliener nur als eine neue Variante der Fremdbestimmung. Sie begann mit der Herrschaft der spanischen Habsburger in Neapel und Sizilien, und sie war mit der Abdankung der aus Frankreich stammenden Bourbonen vor 140 Jahren eben noch lange nicht zu Ende. Nach der italienischen Einigung schloss das fortschrittliche Bürgertum des Nordens einen stillschweigenden Herrschaftskompromiss mit den Großgrundbesitzern des Südens. Er zementierte die rückständigen Strukturen im Mezzogiorno. Und die zentralistische Verwaltung nach französischem Vorbild, mit deren Hilfe die Politiker des Nordens die Spaltung des Landes überwinden wollten, bewirkte das genaue Gegenteil: Sie trug entscheidend dazu bei, dass der Staat als fremde Macht empfunden wurde.

Jahrzehntelang nahmen die Bewohner des Südens das Versagen des Staates mit dem gleichen Fatalismus hin, mit dem sie auch die häufigen Naturkatastrophen in der tektonisch sensiblen Zone ertragen mussten. Erst in den Neunzigerjahren kam für einen kurzen Zeitraum Hoffnung auf. Mutige Kommunalpolitiker wie Leoluca Orlando in Palermo oder Antonio Bassolino in Neapel nutzten den Zusammenbruch des alten politischen Systems, um den Bürgern ihrer Stadt neues Selbstbewusstsein einzuflößen und – zum ersten Mal im Süden – so etwas wie Öffentlichkeit herzustellen. Das neue Leben auf den Straßen und Plätzen werden sich die Bewohner der wiedergeborenen Städte so schnell nicht nehmen lassen. Aber hinter den frischen Fassaden hat sich das alte System wieder breitgemacht – umso mehr, seit die Regierung Berlusconi alles tut, um das gerade erwachte Bewusstsein für den Rechtsstaat zu erschüttern.

Von einem „allgemeinen Erdrutsch“ sprach der Publizist Bocca jetzt in der Zeitung La Repubblica. Den Tod der Kinder in der Schule von San Giuliano, die wegen Konstruktionsmängeln einstürzte, nahm er zum Anlass für eine Generalabrechnung mit dem italienischen System. „Schuld ist diese Gesellschaft“, erklärte er mit unverhohlener Wut, ohne indes auf Besserung zu hoffen: „Von morgen an geht es weiter wie zuvor.“ Für die Bewohner der Zeltstädte sind das keine guten Aussichten.

RALPH BOLLMANN