Im 30-Prozent-Turm

Nach ihrem schlechten Wahlergebnis muss die Union neues Land gewinnen, ohne das alte zu entvölkern – im Augenblick sieht es nicht so aus, als hätte sie das begriffen

Die Alternativen der CDU: Sie wird katholisch, ländlich, südlich – oder wieder Volkspartei

Das Ergebnis der Bundestagswahl hat den Unionsparteien mehrere Lektionen beschert. Da ist einmal die bittere Lehre, dass die Anti-Kohl-Wahl 1998 kein Ausrutscher war, nach dem das Pendel wieder in für die Union „normale“ Schwankungsbreiten (40 plus) zurückschwingt. Außerhalb Bayerns und Baden-Württembergs stagniert die CDU auf eher niedrigem Niveau. Dass CDU und CSU es als Erfolg rühmen, mit der SPD wieder auf gleicher Augenhöhe zu sein, zeigt mehr als alles andere, wie sich die Lage verändert hat.

Da ist zum anderen die beruhigende Botschaft: Ohne allerlei Zufälle, die auf fünf Namen hören (Petrus, Bush, Möllemann, Gysi, Ströbele) hätten CDU und CSU die Wahl gewonnen, so wie sie das ganze Jahr über die Umfragen für sich entschieden hatten. Auch ohne eigene Anstrengungen sah die Union lange Zeit wie der sichere Sieger aus. Freilich: In dem Augenblick, als Gegenwind kam und überraschende Entwicklungen den Wahlkampf durcheinander brachten, fiel vieles in sich zusammen – und fiel plötzlich auf, dass die Union in den Augen vieler Wähler keine überzeugende politische Alternative anzubieten hatte; dass ihre Stärke vor allem der Schwäche der Regierung geschuldet war; dass der Zuspruch der Befragten eher oberflächlich war und keine tieferen Wurzeln geschlagen hatte; dass von einer robusten Zustimmung nicht die Rede sein konnte.

Und schließlich brachte die Wahl der Union die schmerzliche Erkenntnis, dass das Land geteilt ist: nach Mentalitäten, Traditionen, Kulturen. Fast sechzig Prozent für Stoiber und die CSU in Bayern, dreißig und zum Teil viel weniger im Osten und Norden der Republik, gerade mal ein Viertel der Wähler in großen Städten wie Berlin und Hamburg: solche Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Es macht sich wohl zu leicht, wer diese Kulturgrenze durch den Hinweis auf die Person des Kanzlerkandidaten relativiert. Es könnte ja sein, dass sich der Befund in vier Jahren ähnlich darstellt, mit vertauschten Rollen: wenn etwa Angela Merkel im Norden und Osten mehr und in den Südstaaten weniger Wähler holt als Stoiber im Jahre 2002. Es wird in absehbarer Zeit wahrscheinlich keine(n) Politiker(in) in der Union mehr geben, der das gesamte kulturelle Spektrum der Bundesrepublik noch wird abdecken können.

Es liegt auf der Hand, dass die unterschiedlichen Erklärungen auch jeweils ganz andere Lektionen für die Zukunft enthalten. Wer in der CDU daran glaubt, dass das Ergebnis mehr oder weniger ein Zufall war, der wird und kann so weiter machen wie bisher: Alternativen nicht einmal andeuten; stattdessen tun, was Parteien (vor allem in der Opposition) sowieso am liebsten tun: dramatisieren, moralisieren, polarisieren; im konkreten Falle (Notprogramm Rente) die Grünen vorführen und zur Sache schweigen. Wer dagegen eine robustere Zustimmung zur CDU für möglich und nötig hält, wird – über eine Parteireform hinaus – eine andere Strategie einschlagen und daran arbeiten, dass die Position der CDU/CSU bei wichtigen Themen (Rente, Gesundheit) klar und mit guten Gründen positiv vertreten wird. Eine solche Strategie könnte sich daran erinnern, was in den 1970er-Jahren die zweite lange Regierungsära der Union eingeleitet hat: der erfolgreiche Versuch, erst das Vertrauen in die Sachkompetenz, dann das Vertrauen in Politik und Personen und schließlich das Vertrauen der Mehrheit der Wähler zurückzugewinnen.

Eine solche Strategie würde nicht atemlos hinter der Tagesordnung der Regierung herhecheln, sondern in Ruhe daran arbeiten, das Bild der CDU über vier Jahre hinweg zu optimieren, und aktuelle Themen (beispielsweise jetzt die Rentendebatte) dazu nutzen, die eigenen Werte am konkreten Objekt (Generationengerechtigkeit) zu illustrieren. Für die Vorsitzende der CDU liegen Chancen und Risiken dicht beieinander. Viele mögen Angela Merkel, weil sie anders ist. Wenn sie so ist und redet wie alle anderen auch, verspielen sie und die CDU dieses Pfund, schlimmer noch: Sie würde in den alten Ritualen und Rüstungen nur noch komisch wirken, komischer jedenfalls als alte Kämpen, von denen man eh nichts anderes erwartet.

Über Kompetenz in der Sache zu Vertrauen und Erfolg: Auf wirtschaftlichem und selbst auf sozialem Gebiet ließe sich eine intelligente Strategie denken, die die Union wieder nach vorne bringen könnte. Für das weite Feld der auseinander laufenden Kulturen, Mentalitäten, Traditionen lässt sich das nicht sagen. Die Familienpolitik ist ja nur der Anlass und Auslöser, nicht aber die Ursache für die Kulturkämpfe, die mancherorts ausgerufen werden. Sie haben ihren Grund nicht in den wirklichen Verhältnissen: In fast keinem Land der Welt fließt, direkt oder indirekt, so viel öffentliches Geld in die traditionelle Hausfrauen- und Versorgerehe wie in Deutschland. In fast keinem entwickelten (!) Land der Welt werden kleine Kinder in einem solchen Umfange von ihren Müttern zu Hause betreut.

Die CDU hat die Deutungshoheit verloren über das, was bürgerliche Gesellschaft heißt

Es ist ein anderer Sturm, der sich da entlädt und der CDU immer wieder die Ernte verhageln könnte. Sein Thema heißt: Die Modernisierung und ihre Folgen, und entfacht wird er von den kulturellen Modernisierungsverlierern in den feinen Etagen. Dass es ökonomische Modernisierungsverlierer gibt und mit ihnen ein Potenzial für Populisten aller Art, ist bekannt. Die kulturellen Modernisierungsverlierer hat man bisher in biedermeierlichen Wohnungen vermutet, hinter Fachwerk und Schindeln, fromme Frauen, das graue Haar zu einem Dutt zusammengebunden, die regelmäßig in die Betstund’ gehen und daran verzweifeln, dass sie die böse und heillose Welt nicht draußen halten können.

Bedrohlicher für die Zukunft der CDU werden kulturelle Modernisierungsverlierer der anderen Art: Männer im besten Alter und mit größtem Erfolg, die in einem modernen Ambiente leben und arbeiten, mehr der Welt- als der Kirchenfrömmigkeit huldigen, regelmäßig Leitartikel schreiben, dabei zu vielen Dingen ganz aufgeklärte Ansichten vertreten, bei einem Thema freilich zuverlässig ausrasten auf eine Weise, die man bei klugen Köpfen nicht für möglich gehalten hätte. Sie beobachten von ihren Kanzeln herab die Gesellschaft und sehen, was sich alles verändert (hat). Sie haben das subjektive Gefühl, dass mit dem Wandel der Familienformen und der Art und Weise, wie nun auch die CDU darauf reagiert, ihr persönliches Lebensmodell im Nachhinein entwertet wird. Und sie sehen, wie sie in der Öffentlichkeit die Deutungshoheit verlieren über das, was eine bürgerliche Gesellschaft heißen und wie sie sein soll. So sind sie in einem sehr konkreten Sinne Verlierer des Wandels.

Seit dem 19. Jahrhundert hat sich die bürgerliche Gesellschaft ja definiert und (nach innen und außen) repräsentiert durch ein bestimmtes Familienmodell, durch einen besonderen Zugang zu den Anstalten der höheren Bildung (Bildungsbürger) und durch eine selbstständige wirtschaftliche Lebensführung (Wirtschaftsbürger, Familienunternehmen, Mittelstand). Es ist kein Zufall, sondern historisch gut erklärbar, dass viele rund um die Union zu besonderer Form auflaufen, wenn es um diese Themen geht (Familie, Schule, Mittelstand), und dass der richtige Kern ihrer Botschaft regelmäßig zugeschüttet wird mit einem beträchtlichen ideologischen Mehrwert. Aber sicher ist auch, dass eine CDU, die sich auf dieses soziale und kulturelle Milieu beschränken würde, mit rund 35 Prozent noch gut bedient wäre.

Wie die CDU hier neues Land gewinnen kann, ohne das alte zu entvölkern, ist einstweilen eine offene Frage. Verschärft wird die Lage durch den neuen Gegensatz Stadt–Land. Die Stadt war schon immer ein Ort, wo Fremde sich begegnen und Neues schaffen, ein Ort schwacher Bindungen und großer Freiheiten, während es auf dem Lande gerade umgekehrt ist: starke Bindungen und Traditionen, aber weniger Optionen. Von daher ist klar, warum es die CDU in den Städten schwer hat und die CSU in Bayern leichter, ist es doch gerade der besondere Blend zwischen „Optionen und Ligaturen“ (Dahrendorf), der die Lebensqualität in den Südstaaten ausmacht, eine Mischung, die sich nicht so einfach exportieren lässt.

Die Union musste erkennen, dass das Land geteilt ist: nach Mentalitäten, Traditionen, Kulturen

Die CDU ist im 30-Prozent-Turm gelandet. Wie das katholische Zentrum im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Wahrscheinlich ist das auch die Alternative, vor der die CDU nicht zum ersten Male steht: katholisch, ländlich, südlich – oder ein neuer Versuch, wieder Volkspartei zu werden.

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