Freigegeben zum finalen Abschuss

Seit Ende des Moskauer Geiseldramas werden in Tschetschenien immer mehr Menschen Opfer des Terrors russischer Truppen. Die morden und „säubern“, auch ohne Marschbefehl aus dem Kreml. Doch wird mittlerweile auch Kritik an dem Vorgehen laut

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

Moskaus Bellizisten sind in ihrem Element. Die Gefahr eines Friedensschlusses im Kaukasus droht nicht mehr. Nach dem Geiseldrama in Moskau rückte eine unblutige Lösung in noch weitere Ferne. Am vorletzten Wochenende hatte Verteidigungsminister Sergej Iwanow den Kaukasusflecken zum endgültigen Abschuss freigegeben und den Abzug von Truppen gestoppt. Stattdessen versprach er markig „hartes und zielgerichtetes Vorgehen in allen Regionen Tschetscheniens“. Nach offiziellen Angaben stehen 85.000 Mann in der Republik, inoffizielle Schätzungen kommen auf weit über 100.000.

Die Militärs müssen sich keine Hemmungen mehr auferlegen. Hinter den „zielgerichteten Operationen“ verbergen sich willkürliche Säuberungsaktionen: Unter dem Vorwand, islamistische Terroristen dingfest zu machen, ziehen trunkene Landsknechte mordend und marodierend durch die Dörfer und heben den terroristischen Nachwuchs aus. Die Armee wartete nicht auf den ministeriellen Marschbefehl. Seit dem Ende des Geiseldramas überzieht sie Tschetschenien nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen vor Ort mit beispiellosem Terror. Selbst Tschetscheniens moskautreue Regierung konnte nicht mehr schweigen: „Wir haben zu den Vorgängen eine andere Meinung“, meldete sich Premierminister Iljasow. Die Armee tut, was Iwanow verlangt: „Die Bedrohung im Keim zu ersticken.“

In Moskau tut die Duma ihr Bestes, um den Kriegsverbrechen eine Rechtsgrundlage zu geben. So brachten die Abgeordneten ein Gesetz auf den Weg, wonach der Staat Leichen so genannter Terroristen nicht mehr herausgeben muss. Das betrifft alle, die im Rahmen von Antiterrormaßnahmen festgenommen werden, in und außerhalb Tschetscheniens. Aus dem Russischen übersetzt heißt das: Foltert und misshandelt so viel ihr wollt.

Strafexpeditionen gegen die Zivilbevölkerung finden rund um die Uhr statt. Seit Sonntag registrierte die Menschenrechtsgruppe Memorial in Inguschetien „satschistki“ mit Todesfolgen. In Grosny starben ein Greis und ein Junge durch eine Granate. Nach dem Abzug der Armee fanden die Einwohner von Tschetschen-Aul drei Tote vor dem Ort. In Samaschki wurde ein geistig Behinderter am Ortsrand ermordet. In Stara Sunscha sind die Säuberungen noch im Gang.

Die Iswestija nutzte die letzten Tage der Pressefreiheit, bevor ein Maulkorberlass in Kraft tritt, und warnte: Russland beginnt „einen dritten Tschetschenienkrieg , ohne den ersten und zweiten beendet zu haben“. Auf Reisen im Nordkaukasus beteuerte der Kremlchef, keine flächendeckenden Vergeltungsschläge anzuordnen. Dieses Appeasement ist er den Nordkaukasiern schuldig, deren Ängste wachsen, stärker von den indirekten Folgen der russischen Gewaltorgien in Mitleidenschaft gezogen zu werden.

Gleichwohl kann Wladimir Putin viel versprechen. Das Militär macht ohnehin, was es für nötig hält. Selbst wenn der Kremlchef Frieden wollte, wären ihm die Hände gebunden. Der Präsident ist zur Geisel des simplifizierten Weltbildes der Sicherheitsstrukturen geworden. Und mit ihm ganz Russland. Die Spirale der Gewalt dreht sich im Schwindel erregenden Tempo. Auf die vermeintliche Bedrohung will der Kreml nun mit einer neuen Sicherheitsdoktrin antworten. Diese soll erlauben, „zielgenaue Waffen mit größter Zerstörungskraft“ auch im Ausland gegen terroristische Stützpunkte einzusetzen. Allem schaut der Westen zu und applaudiert höflich.

Mit Lügen arbeitet der russische Sicherheitsapparat daran, die gemäßigten Kräfte im tschetschenischen Widerstand zu diskreditieren. Mit Erfolg – Washington ist am Kuhhandel Grosny gegen Bagdad interessiert. Sind Präsident Aslan Maschadow und Emissär Achmed Sakajew demontiert, gibt es keine Ansprechpartner mehr, noch einen Grund zu verhandeln. Dann hätten extremistische Kreise die Oberhand gewonnen. Sollte das das Kalkül der Militärs sein?

Iwan Rybkin, Dumavorsitzender, Sicherheitsratschef und Sonderbeauftragte des Kreml für Tschetschen, sondiert seit einiger Zeit die Chancen eines Friedens. Im September hatte ihm die tschetschenische Seite signalisiert, mit einer direkten Verwaltung durch den Kreml im Rahmen einer weitgehenden Autonomie in der Russischen Föderation einverstanden zu sein. Rybkin wandte sich mahnend an den Kreml, die fehlgeschlagene Politik in Tschetschenien fortzuführen und den Ursprung des Konfliktes nicht zu vernebeln: Der Krieg habe nichts mit panislamistischem Terrorismus oder al-Qaida gemein. Auch nach dem Geiseldrama steht er dazu: Solange Washington Moskau in der Fehldiagnose unterstütze, werde der Kreml nicht einschwenken.

Ähnlich sieht es auch der frühere Außenminister, Chef des Auslandsgeheimdienstes und Premier, Jewgeni Primakow. Er sorgte im September für Verstimmung, als er sich mit einem Friedensentwurf an die Öffentlichkeit wagte. Auch er wandte sich erneut an Putin mit der Bitte, Russland und der Welt nicht länger vorzugaukeln, in Tschetschenien werde man von islamistischen Terroristen bedroht.