Haarscharf auf der Schiene

Am Tag, als der Castor ins Wendland kommt: DemonstrantInnen blockieren Bahn-Hauptstrecke in Lüneburg. ICE aus Hamburg muss daraufhin notbremsen. Fotojournalistin im Anschluss an die Aktion in Gewahrsam genommen

von HEIKE DIERBACH

„Willkommen beim Skatclub Wendland!“ Am Tisch sitzen beim fahlen Schein einer Schreibtischlampe zwei junge Männer und eine Frau und zocken. Der Boden um sie herum ist bedeckt von Menschen, zugedeckt mit Mänteln und Pullovern. Es ist vier Uhr morgens, in der Küche irgendeiner Wohnung irgendwo in Lüneburg. Von hier aus will der „Skatclub“ losziehen, um den Castor zu stoppen. Wo, wird während der Aktion bekannt gegeben. Eigentlich sollte es jetzt losgehen. Aber der Zug ist noch weit weg bei Göttingen. Die ZockerInnen Frank, Michaela und Harald* geben es auf, durchzumachen und füllen die Lücke auf dem Boden zwischen Tisch und Kühlschrank. Für die Berichterstatterin findet sich ein Plätzchen unter dem Tisch. Noch ein paar Stunden Ruhe.

Um halb sieben werden die Ersten unruhig: „Nicht, dass der Castor schon durch ist“, sagt Frank. Der SMS-Verteiler von X-tausendmal-quer bringt Klarheit: Der Castor steht vor Verden wegen einer Ankettaktion. Zeit genug, um Brötchen zu holen.

Während des Frühstücks behält Harald durch das Küchenfenster die Straße unten im Auge: „Keine Zivis in Sicht!“ Um viertel nach zehn der erlösende Anruf: Der Castor kommt! Wanderschuhe werden geschnürt, die Telefonnummer vom Ermittlungsausschuss auf Arme geschrieben. Alle müssen nochmals aufs Klo.

Viertel vor elf: Es geht los. Durchs Treppenhaus und raus durch die Hintertür. Schnell die Straße überqueren, in die Seitenstraße. Da hinten kreist ein Hubschrauber. „Schnell, schnell, zusammenbleiben!“ Den Durchgang zwischen den Häusern runter. „Achtung, der Hubschrauber kommt!“ Alle drücken sich unter einen Garagensims. Vergeblich: Der Hubschrauber hat die Gruppe gesehen, kreist jetzt genau über ihr. Aber noch keine Polizei am Boden. Weiter geht es im Laufschritt, an der Kirche vorbei, über den Zaun, den Abhang herunter, über das Fabrikgelände und in die Straße einbiegen.

Da ist sie! Die Schiene, auf der er kommen soll. Der Weg dorthin ist frei. „Los, lauft!“ Die Böschung hoch, an der anderen Seite wieder runter. „Wir sind drauf!“

Zwei BGS-Leute kommen von links angelaufen. „Mann, seid Ihr wahnsinnig? Der ICE kommt!“ Die DemonstrantInnen gucken skeptisch. Aber dort hinten sieht man tatsächlich ein weißes Dreieck, das schnell größer wird.

„Runter hier, der mangelt euch über!“ Der BGS-Beamte schiebt erfolglos an einem Demonstranten. Seine Kollegin schreit in ihr Handy. Auch die Stimme des Beamten überschlägt sich: „Haut ab, haut ab!“ Der ICE ist noch etwa 250 Meter entfernt. Die DemonstrantInnen springen auf, stürzen von den Gleisen.

200 Meter vor der Stelle kommt der ICE zum Stehen. Die DemonstrantInnen stürzen zurück auf die Schiene. Über den Bahndamm kommt Verstärkung vom BGS. In einer halben Minute ist die Blockade aufgelöst.

„Das war brandgefährlich“, sagt der Einsatzleiter, „wir konnte den ICE nicht mehr informieren. Der konnte gerade noch über Sicht eine Notbremsung einleiten.“ „Panikmache“, kontert Frank, „es war total klar, dass wir rechtzeitig von der Schiene gehen, wenn der Zug nicht mehr halten kann“. Aber den beiden BGS-BeamtInnen auf der Schiene nimmt er die echte Sorge ab.

Die DemonstrantInnen werden in Gewahrsam genommen. Sie erwartet eine Anzeige wegen „gefährlichen Eingriffes in den Schienenverkehr“. Sie sind schon abgeführt, da gehen die BeamtInnen auf eine am Rande stehende Fotojournalistin los: „Sie waren während der Blockade auf den Gleisen“, sagt der Einsatzleiter, „Sie kommen auch in Gewahrsam.“ Polizeipressesprecher Detlev Kaldinski fragt irritiert nach – die Journalistin hat einen offiziellen Presseausweis – dann aber rechtfertigt er: „Klar gibt das Ärger. Aber die Presse muss sich eben auch an die Regeln halten.“

* alle Namen geändert

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