Die Stimme auf dem Beifahrersitz

Vom Blick nach Osten: Beim internationalen Filmfest in Thessaloniki standen neue Filme aus dem Iran im Mittelpunkt – und die Frage, was sie eigentlich über das Land aussagen, aus dem sie kommen. Doch die Debatte über Repräsentation und die Fallen des Orientalismus blieb an der Oberfläche

von CRISTINA NORD

Thessaloniki ist ein guter Ort für Filmfestspiele. Zum einen, weil es den Organisatoren des am Sonntag zu Ende gegangenen Festivals gelingt, im Wettbewerb und in der Sektion „Neue Horizonte“ die interessanteren Filme der europäischen A-Festivals zu versammeln. Und zum anderen, weil die Stadt an manchen Tagen aus eigenen Stücken Filmbilder produziert: Wenn das ihr großzügig zuteil werdende Licht sich im Dunst bricht, sich zerstreut und dadurch umso heller strahlt, dann ist dies die beste Voraussetzung dafür, dass sich der Blick in südwestlicher Richtung über dem Golf verliert und Himmel und Meer sich zu einer weiten Fläche verbinden, zu einer Leinwand, auf der bisweilen die vage Gestalt eines Schiffes erscheint.

Richtet sich der Blick nach Osten, trifft er auf vieles, was Aufmerksamkeit erregt. Zum Beispiel auf eine Reihe iranischer Filme, die zu einem kleinen Teil im Wettbewerb, zum größeren Teil bei den „Neuen Horizonten“ zu sehen waren. Mit einer Ausnahme, der US-amerikanisch-marokkanisch-iranischen Koproduktion „K“ von Shoja Azari, teilten sich diese Filme ein Sujet: Um Frauen und deren Stellung in der Gesellschaft ging es. In Bahid Mousaians „Are zou-ha-ye-Zamin“ („Wünsche des Landes“) um eine junge Frau in einem Bergdorf, die den fatalen Fehler begeht, sich in den mittellosen Schäfer zu verlieben. Der Film ist ein Drama um Familienehre und verbotene Liebe, das die Archaik in die Gegenwart ragen lässt. Man weiß nicht recht, welchem Blick Mousaian damit schmeichelt: vielleicht dem des Westens, der islamische Gesellschaften als prämodern wahrnimmt?

In Rassul Sadr-Amelis „Man Taraneh, 15 sal daram“ („Ich bin Taraneh, 15 Jahre alt“) geht es um eine Teenagerin, die gegen alle Widerstände ein Kind bekommt. In Manijeh Hekmats „Zendan-e Zanan“ („Frauengefängnis“) um eine Aufseherin und die Insassinnen in einem Frauengefängnis. In Abbas Kiarostamis „Ten“ schließlich um eine Frau, die ihren Wagen in zehn schönen Sequenzen durch Teheran lenkt. Außerdem zeigte das Festival acht Kurzfilme der in New York lebenden Shirin Neshat, die normalerweise in Museen zu sehen sind: ein Stück White Cube in der Black Box. Doch die kunstreligiöse Tönung bleibt erhalten, wenn Neshats Bilder, anstatt auf gegenüberliegende Wände projiziert zu werden, sich eine Leinwand teilen müssen.

Ist das repräsentativ für das iranische Filmschaffen? Die Frage drängt sich auf und wird auf einer Podiumsdiskussion zu „Frauen im iranischen Kino“ von Manijeh Hekmat verneint. Pro Jahr würden 80 bis 100 Filme im Iran gedreht. Wie kann da ein halbes Dutzend repräsentativ sein? Dass das westliche Publikum ein so großes Interesse an dem Sujet Frau entwickele, erstaune sie immer wieder, sagten die Regisseurin und die Darstellerinnen auf dem Podium. Und dass es sie störe, wenn ständig nach dem Schleier gefragt werde.

Man wird dabei den Eindruck eines tief sitzenden Unbehagens nicht los: Die Iranerinnen merken sehr wohl, dass die Frauenfrage gegen die Gesellschaft verwendet wird, aus der sie kommen. Wenn man sich in Thessaloniki so intensiv damit beschäftigt, so ist dies ein Stück weit Teil des gängigen Orientalismus, es ist aber zugleich auch eine Kritik daran (insofern die Filme, allen voran „Ten“, mit anderen Rollen operieren als denen, die in der westlichen Wahrnehmung existieren). Genau das ist das Dilemma oder besser: der Punkt, an dem es interessant wird. Denn hier begegnet der westliche Orientalismus einem iranischen Okzidentalismus, dem einen Verkennen ein anderes Verkennen. Aus dieser Melange könnte Erkennen entstehen, brächte man sie denn zur Sprache.

Das geschieht jedoch nicht, die Diskussion bleibt an der Oberfläche. Die Moderatorin hakt nicht nach, wenn die Schauspielerin Fatomeh Mothamed den Code rechtfertigt, der das Zeigen von Sex, Alkoholkonsum oder Gewalt verbietet: Dadurch werde es möglich, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, auf „die emotionalen und sozialen Sorgen der Menschen“. Kiarostamis „Ten“ darf in Teheran erst gezeigt werden, wenn der Regisseur die als anstößig empfundenen Sequenzen herausschneidet. Dann würde keine Prostituierte mehr auf dem Beifahrersitz von ihrem Leben erzählen, und keine von ihrem Geliebten verlassene Frau hätte sich das Haar geschoren. „Ich sollte den Film vielleicht ‚Sechs‘ nennen“, scherzte Kiarostami während der Pressekonferenz.

Noch eine andere Zuschreibung findet ihren Platz: dass, wie die Schauspielerin Fatomeh Mothamed Aria sagte, „das iranische Kino ein Spiegel der iranischen Realität“ sei. Warum nur wird diese Spiegelfunktion so umstandslos unterstellt, sobald es um Kinematografien aus nichtwestlichen Ländern geht? Sie greift viel zu kurz, was sich spätestens im Kontrast der Filme zeigt: „Ich bin Taraneh“ etwa lässt die Möglichkeiten der Einbildungskraft zugunsten eines unausgegorenen Realismus außer Acht. Die in Bedrängins geratene Protagonistin bekommt eine Leidensmiene verpasst und wird damit durch die 109 Minuten des Films geschickt. Bald haben sich alle gegen sie verschworen, mit der besonderen Pointe, dass ausgerechnet die Chefin einer Frauenorganisation ihr besonders übel mitspielt. Hier trifft sich das Märchenmotiv der bösen Stiefmutter mit einer unterschwelligen Ablehnung gegen institutionalisierte Frauenarbeit. So unfrei die Figuren, so unfrei auch der Film.

Ganz anders „Ten“: Kiarostami schraubt eine Digitalkamera auf die Motorhaube eines Autos und filmt, was während der Fahrt im Innern des Wagens, auf dem Fahrer- und dem Beifahrersitz passiert (mit Ausnahme einer kurzen, nach außen führenden Kamerabewegung). Eine schöne Verbindung von Geschlossenheit und Offenheit, von Innenraum und im Hintergrund vorbeiziehender Stadt ist das. In der ersten, in einer Einstellung gedrehten Episode sieht man nur den etwa acht Jahre alten Sohn der Fahrerin, der voller Vorwürfe gegen die Mutter ist, weil die sich hat scheiden lassen. Man hört ihre Erwiderungen, sieht sie aber erst in der zweiten Sequenz. Auch die Figur der Prostituierten sieht man nicht, solange man ihre Stimme hört und sie auf dem Beifahrersitz weiß. Erst wenn die Kamera ihr für wenig Augenblicke nach draußen, bis zum Wagen eines Freiers, folgt, wird ihr Rücken sichtbar. Und in den Schnitten zwischen den Sequenzen bewegt sich die Zeit: Kiarostami weiß, dass ein Film nicht nur von dem lebt, was Bild wird, sondern auch von dem, was zwischen den Bildern unsichtbar bleibt. Er muss nicht alles erklären, er kann Dinge offen lassen und gelangt dabei durch die Reduktion und das Einfache der Struktur zu einer Form kinematografischer Freiheit. Auch wenn er Laiendarstellerinnen spielen lässt (die an der Ausarbeitung des Drehbuchs beteiligt waren), hat man nie den Eindruck, er wolle das Kino im Realitätseffekt auflösen. En passant entsteht ein Panorama weiblicher Befindlichkeiten, das im Film von großer Schlüssigkeit ist. Ob „Ten“ etwas repräsentiert – eine Realität, den Status von Frauen, das iranische Kino –, ist dann unerheblich.