Spülen Sie dreimal!

Mögen die Amerikaner Halloween haben, das taz.mag hat Mark Sarg! Zum Totensonntag berichtet der Wiener Autor Neuestes aus der Welt der Geister, der Leichen und der Untoten

von MARK SARG

Der Rauchunterricht

Genüsslich zündete sich Monsieur Flaubert de Pinsch eine Zigarette im Pausenfoyer der Oper an. „Ach, Sie können rauchen?!“, bewunderte ihn eine sehr distinguierte Dame mit violett verschleiertem Gesicht und auffallend nasal-vornehmer Stimme. „Wo haben Sie denn das gelernt?“ Er wollte kein Spaßverderber sein: „Das, meine Gnädigste, habe ich mir ganz allein beigebracht.“ „Oh, würden Sie vielleicht den Versuch wagen, es auch mir beizubringen, mon cher?“, fragte sie enthusiastisch. „Wenn Madame Ihren Schleier zu lüften belieben …“

Kaum hatte sie dieses getan, prallte er entsetzt zurück. Sie hatte keinen Mund! – „Aber womit haben Sie denn gesprochen die ganze Zeit?“, stammelte er. „Mit der Nase natürlich. Hat man das nicht gehört?“ Sie war sichtlich amüsiert. – „Und womit essen und trinken Sie?“ „Ebenfalls mit der Nase“, erklärte sie nachsichtig. Da steckte er ihr kurz entschlossen eine Zigarette in das linke Nasenloch, zündete diese an – und: Es funktionierte!

Die Begeisterung der Dame kannte keine Grenzen: Mit ihrem anderen Nasenloch gab sie Monsieur einen schmatzenden Kuss!

Der Pferdeschlucker

Signor Gaulidio Maltretini war ein weltberühmter Artist. Seine Attraktion bestand darin, ein komplettes Pferd mitsamt Federschmuck zu verschlucken, auf einem Seil in die Zirkuskuppel zu klettern, das Pferd wieder auszuspeien und sodann auf ihm das Seil hinabzureiten.

Eines Abends wollte Signor Maltretini eben mit seiner Nummer beginnen, da wieherte das Pferd außer Programm einmal kräftig – und verschluckte ihn. Das Publikum dachte an eine neue Variation der Darbietung und wartete gebannt. Das Pferd hingegen richtete sich auf den Hinterbeinen auf, um mit resoluter Stimme zu verkünden: „Irgendwann muss Schluss sein mit dieser Schluckerei!“, und danach in gemächlichem Tempo aus der Manege zu traben.

Die Zuschauer hielten dies für eine weitere Pointe des Abends und applaudierten wie wild. Sie konnten ja nicht ahnen, dass sie Signor Maltretini zum letzten Mal gesehen hatten.

Die schreckhafte Leiche

Eine leicht erregbare Leiche, die sich erstmals in ihrem Zustande in einem Spiegel, der völlig überflüssigerweise an der Innenseite des Sargdeckels montiert war, erkennen musste, war über ihren Anblick so entsetzt, dass sie vor Schreck wieder zum Leben erwachte.

Sich solcherart im Sarge vorfindend, traf sie gleich darauf vor Schreck wiederum der Schlag – und dieses Prozedere wiederholte sich eine ganze Reihe von Malen, ehe sie zur Einsicht fand: „Diese ewige Erschreckerei raubt mir noch den letzten Nerv und muss einfach ein Ende haben!“

„Ich glaube fast, etwas sicherer fühle ich mich zunächst tot!“, seufzte sie schließlich, vor die Wahl gestellt, welchen der beiden Zustände sie nun vorzog. Es ist nicht bekannt, wie oft sie sich danach noch schreckte.

Das giftige Rotzmensch oder Die Retterin der Nation

Aus purer Bosheit pflegte ein Rotzmensch (Göre, ungezogenes Mädchen) ständig giftige Pilze zu verschlingen. Seine Tücke und sein Trotz waren indes so gewaltig, dass es justament nicht daran starb, sondern lediglich selbst immer giftiger wurde. Dies hatte in der Tat sein Gutes: Am Rande der Stadt hauste nämlich Mademoiselle Odabelle Grausschmatzinger, eine weit über die Grenzen des Landes bekannte und gefürchtete Menschenfresserin, der man einfach nicht das „Mundwerk“ legen konnte. Auf der Suche nach einem Leckerbissen erspähte sie das nach einer – besonders giftigen – Labung aus dem Walde torkelnde Rotzmensch, und ehe sich dieses vorsehen konnte, brutzelte es auch schon in ihrem Herd. – Doch einer solchen Ansammlung von Schadstoffen war selbst die alles andere als heikle Mademoiselle nicht gewachsen – und sie verschied an ihrem Mahle, bevor sie es verdaut hatte.

Als man gierig (vor wissenschaftlichem Drange) ihre Leiche obduzierte und darin das kaum zerkleinerte Rotzmensch fand, wurde allen klar, wem das Ende dieser Plage zu danken war. Eiligst ließ man im Stadtpark ein Monument errichten, das mit der Aufschrift gekrönt war: „Dem edlen Rotzmensch, der Retterin der Nation“.

Die feurige junge Leiche

Eine junge Leiche war so temperamentvoll und feurig, dass sie es kaum erwarten konnte, verbrannt zu werden. Noch kurz zuvor tanzte sie einen wilden Flamenco auf dem Deckel ihres Sarges, sodass die Krematoriumsbediensteten alle Mühe hatten, sie auch tatsächlich dem Feuer zu übergeben.

Als es dann vorbei war, konnte sie ihre Asche gar nicht rasch genug in alle Winde zerstreuen, um ihre Reiselust endlich voll ausleben zu können!

Das Selbstvermächtnis

Entnervt vom jahrelangen, erbitterten Streit mit seiner Nachbarin, Demoiselle Annabelle Xandlhauser, beschloss Geheimrat Lois Indernodel, sich ihr – als kleine „Wiedergutmachung“ – testamentarisch selbst zu vermachen.

Als nun wenige Tage nach seinem Ableben zwei elegante Herren in Schwarz bei ihr klingelten und mit dem Hinweis „Ihr Erbstück, Madame“ einen Sarg nebst bekanntem Inhalt präsentierten, traf dieselbe – vor „Freude“, wie man fälschlich annahm – unverzüglich der Schlag. Um das Testament dennoch zu vollstrecken, legte man sie gleich zu ihm, und veranstaltete – wie man glaubte, ganz im Sinne der Verblichenen – eine feierliche Doppelbestattung.

Ob schlussendlich dies zu einer Versöhnung der beiden führte, bleibt reinen Spekulationen vorbehalten.

Mamas Liebling

Eine Leiche war Mamas Liebling. Diese konnte einfach nicht anders: So oft sie an der Gruft vorbeikam, musste sie sie aus dem Sarg nehmen, auf den Schoß legen und voller Hingabe streicheln und liebkosen.

Dies stets völlig regungslos und artig über sich ergehen lassend, rätselte die Leiche bloß immer: „Merkwürdig, was findet die nur an meinesgleichen?!“, bis sie eines Tages ihre Neugier nicht mehr bannen konnte und die nämliche Frage laut an ihre „Liebhaberin“ richtete.

„Pfui Teufel!“, schrak diese entsetzt auf, „Sie sind ja gar nicht tot! Was fällt Ihnen ein, Sie rüpelhafte Person, mich derart an der Nase herumzuführen!“ Und angeekelt warf sie die „Untote“ zurück in den Sarg und rannte in Panik davon. Energisch trommelte sie zu Hause ihre Kinder zusammen und drohte ihnen: „Lasst euch nur ja nicht einfallen, euch jemals tot zu stellen, solange ihr am Leben seid, ihr Fratzen, sonst bringe ich euch eigenhändig um!“

Der musikalische Notar

„Eine Canzone zu Beginn!“, wies ein musikalischer Notar seinen Sekretär an, als ihm dieser morgens eine Tasse Kaffee reichte. Der gab daraufhin ein neapolitanisches Lied zum Besten.

Als er dabei das hohe C zwar lang anhaltend, aber falsch sang, schüttete ihm der Notar unwirsch den Kaffee in den Rachen. „Ich dulde keine falschen Töne in meiner Kanzlei! Notieren Sie dies, kopieren Sie es dreimal, und legen Sie es mir anschließend zur Beglaubigung vor! Doch zuallererst bringen Sie mir frischen Kaffee!“

Der Arm unter Wasser

Mrs Gotthilda Greenspeck schickte sich an, ins Schwimmbecken ihres Gartens zu steigen, als sie unter der Wasseroberfläche einen losen Arm treiben sah. Sogleich fiel ihr ein, dass am Vormittag der Gärtner hier gewesen war, und sie rief ihn an, ob er einen Arm bei ihr vergessen habe. Er sah nach und versicherte ihr dann, er habe beide Arme noch.

Etwas ratlos näherte sie sich erneut dem Becken, da bemerkte sie, dass der Arm auch keine Hand mehr hatte. Voll Bedauern fragte sie ihn nun, wem er denn gehöre. „Ausschließlich mir selbst!“, fertigte er sie schnippisch ab. Das sei doch keine Antwort, drang sie weiter in ihn, worauf er ihr unwirsch zu verstehen gab, dass er lediglich einige Runden in Ruhe schwimmen wolle; ob dies vielleicht zu viel verlangt sei.

Mrs Greenspeck ließ indes nicht locker in ihrer Befragung – bis dem Arm der Kragen platzte und er sie anfuhr, sie könne froh sein, dass er keine Hand mehr besitze, da ihm diese sonst längst ausgerutscht wäre! – „Ach du albernes Ding! Du verdienst es ja gar nicht, dass man sich sorgt deinetwegen!“ Und sie sprang ins Wasser, um gleichfalls zu schwimmen.

„Buserieren Sie mich nicht!“

Schlaftrunken öffnete Madame Ludmilla Bartstocher nachts ihre Toilettentür – und war mit einem Schlage wach: Ein Gespenst mit rosa Filzhut und weißem Faltengewande thronte auf dem WC! „Was machen Sie hier?“ war alles, was sie stammeln konnte. – „Was macht man wohl auf einem WC, Madame?!“ – „Aber Sie als – Geist …“ – „Ob Sie es glauben oder nicht, Gnädigste, selbst einem Gespenste sind menschliche Regungen manchmal nicht ganz fremd.“ – „Dürfte ich dennoch jetzt die Toilette benutzen?“, wagte sie sich nach kurzer Verschnaufpause mutig voran. „Buserieren Sie mich nicht!“, ermahnte sie das Gespenst. „Ich brauche, so lange ich brauche. – Und machen Sie freundlichst die Tür wieder zu! Oder ist Ihnen Ihre Scham zur Gänze abhanden gekommen?!“

Geschlagene zwei Stunden später – wie auf Nadeln war sie im Bett gelegen – hörte sie endlich die Wasserspülung, und gleich darauf stand ihr Besuch auch schon vor ihr, den rosa Hut in der Hand und charmant lächelnd: „Wenn Sie noch wollen, dürfen Sie jetzt. – Ich benutze derweilen auch Ihr Bett.“ Madame erkannte rasch, dass jeder Einspruch sinnlos war, und begab sich stattdessen lieber schleunigst auf die Toilette.

Behutsamst fragte sie nach ihrer Rückkehr, ob sie vielleicht wieder in ihr Bett dürfe. „Buserieren Sie mich nicht! Ich brauche, so lange ich brauche.“ Fast hatte sie eine derartige Entgegnung erwartet. „Soweit ich weiß, steht eine Couch in Ihrem Wohnzimmer. Gute Nacht also!“ Nichts anderes blieb ihr übrig, als diesem Hinweis zu folgen.

Mit zwiespältigen Gefühlen wollte sie am Morgen nach ihrem Gaste sehen, doch fand sie auf dem Bett nur noch ein Foto von „ihm“ vor, auf welchem allerdings nicht viel mehr als seine markante Kostümierung auszumachen war und das auf der Rückseite die in rosa Schrift flüchtig hingeworfene „Widmung“ trug: „Adieu! Vielleicht wäre ich sogar etwas länger geblieben, wenn Sie mich nicht ständig buseriert hätten.“

Da konnte Madame nicht umhin, sich verstohlen eine Träne aus dem linken Auge zu wischen.

Das singende Monster

Eine Sumpfschnepfe nahm Gesangsunterricht bei einer Nachtigall und pflegte sich jeweils am Schluss der Stunde mit „Küss die Hand, Madame“ zu verabschieden. Dies hörte mehrmals ein Mistkäfer aus der Nachbarschaft, und er kam – ohne die Nachtigall jemals gesehen zu haben – zu dem Schluss, sie müsse wohl verunstaltet sein, weil sie eine Hand besaß. Er erzählte dies umher, und bald war die Gute als „das singende Monster“ verschrien.

Als ihr das zu Ohren kam und sie erfuhr, wer der Urheber war, stellte sie diesen und wies ihn zurecht: „Wenn Er dieses dumme Gerede nicht bald beendet, wird mir noch die Hand ausrutschen!“ Da sah der Mistkäfer zu seiner Erleichterung, dass sie eine solche gar nicht hatte. „Singendes Monster ohne Hand“ war daher forthin der Titel Madames.

Zwei Damen im Sarg

Auf einer Grabdurchreise trafen zwei Damen einander in einem Sarg. Genüsslich tranken sie Kaffee, aßen Madenspeckbrote und bewunderten die unterirdische Aussicht. Bei Einbruch der Dunkelheit kamen sie wieder nach oben. „Denn eines kann ich auf den Tod nicht ausstehen“, versicherte die eine, nachdem sie sich mit einem Kuss von der anderen verabschiedet hatte, „Friedhofsbesuche bei Nacht!“

Die Fratze im Mondlicht

Nachts abrupt erwachend und zum Fenster blickend, sah Mrs. Bolivia Greenmohn ein von außen an die Scheibe gepresstes, grauenhaft zerschnittenes Gesicht, in dem unzählige Glasscherben steckten, die im Mondlicht funkelten.

Angewidert drehte sie sich zur Seite und schlief weiter.

„Spülen Sie dreimal!“

Während eines nächtlichen Toilettenbesuchs wurde Signor Eldoredo Bratspecht von einem Gespenste überrascht. „Spülen Sie dreimal!“, befahl es ihm, was er voller Ehrfurcht tat. Danach packte es ihn beim Kragen und tauchte seinen Kopf in die WC-Schale.

„In Ihrem Interesse wollte ich Ihnen nur möglichst sauberes Wasser zum Trinken anbieten!“, erklärte es gönnerhaft, ehe es sich höflich verabschiedete und ihm noch eine angenehme Nacht wünschte.

MARK SARG kam an Allerheiligen zur Welt und lebt in Wien. Zum Totensonntag 2001 erschien im taz.mag die erste Lieferung seiner bizarren Geschichten