Wie behalte ich die Nerven?

von MANFRED KRIENER

1 Nehmen Sie die neue Chemikalie ernst: Acrylamid ist mehr als die neueste Sau, die durchs Dorf gejagt wird. Die Substanz wird uns noch Jahre beschäftigen, das steht jetzt schon fest. Sie entsteht bei starker Erhitzung kohlenhydrathaltiger Lebensmittel, vor allem bei der Kartoffel. Acrylamid gilt als Krebs erregend, erbgut- und nervenschädigend und hat sich im Tierversuch als potentes Gift erwiesen. Bei der Ratte wurde ein Krebswachstum in den Verdauungsorganen beobachtet. „Es ist nicht neu, dass wir Kanzerogene (Krebs erregende Stoffe) in Lebensmitteln finden, aber es ist das erste Mal, dass wir sie in solch hohen Konzentrationen in Lebensmitteln finden, die bisher als sicher galten“, sagt Dieter Arnold, Leiter des Bundesinstituts für Risikobewertung. Auch die Reaktion der Weltgesundheitsorganisation WHO zeigt den Ernst der Lage. Noch nie haben die Genfer Gesundheitshüter in solch kurzer Zeit einen Krisengipfel auf die Beine gestellt. Ende April hatten schwedische Wissenschaftler erstmals über Acrylamid berichtet, schon im Juni hatten sich 23 Experten zum großen WHO-Ratschlag versammelt.

2 Das ist noch kein Grund zur Panik: Trotz der teilweise alarmierenden Befunde besteht kein Grund, den Panikknopf zu drücken. Skeptisch sollten Sie vor allem gegenüber jenen selbst ernannten Experten bleiben, die schon mal den Blutzoll durch den „Pommes- und Bratkartoffeltod“ hochgerechnet haben. Die Zahl von 8.000 Krebstoten im Jahr allein für die Bundesrepublik vagabundierte durch die Schlagzeilen. Acrylamid, so hieß es, koste mehr Menschenleben als der Verkehrstod. Schwedischen Gesundheitsbehörden zufolge ist die Substanz für drei Prozent aller Krebsfälle verantwortlich. Doch „belastbar“, also wirklich seriös, ist keine dieser Zahlen. Dazu wissen wir noch viel zu wenig.

3 Bleiben Sie cool gegenüber heißen Risikokandidaten: Täglich werden neue Risikokandidaten entdeckt. „Auch der Lebkuchen ist gefährlich“, funkt die Boulevardpresse, dann ist es wieder das Vanillekipferl, der Butterkeks, Cracker sowieso, aber auch Cornflakes, Kaffee, Brot und, und, und. Dabei ist längst klar, dass Acrylamid in einer so großen Zahl von Lebensmitteln vorkommt, dass eine Vermeidungsstrategie kaum möglich ist. Wichtig: Die am höchsten belasteten Lebensmittel sind Pommes frites, Kartoffelchips, Bratkartoffeln und Knäckebrot.

4 Fangen Sie bloß nicht an zu rechnen: Zahlen wirken beruhigend. Als hätten wir alles im Griff. Bei Acrylamid handelt es sich aber um erste grobe Abschätzungen. Wie viel Acrylamid nehmen wir täglich auf? Als Durchschnittswerte gelten 30 bis 70 Mikrogramm pro Tag. Das entspricht – je nach Statur – fast einem Mikrogramm pro Kilo Körpergewicht, wobei Fastfood-Junkies sehr viel mehr schaffen. Ein Milligramm (tausendstel Gramm) pro Kilo Körpergewicht gilt als die niedrigste Dosis, die bei täglicher Zufuhr im Rattenversuch regelmäßig Krebs auslöst. Damit hätten wir einen Sicherheitsabstand von Faktor tausend von der Krebsratte zum Durchschnittsmenschen und Faktor hundert zum exzessiven Pommes-Vertilger. In der Toxikologie gilt das als unakzeptabel. Das Risiko ist also „schwerwiegend“, so Verbraucherschützer Dieter Arnold).

5 Feuer und Flamme für Acrylamid: Entscheidend für das Entstehen von Acrylamid ist die Hitze. Faustregel: Je höher Temperatur und Bräunungsgrad sind, desto mehr Acrylamid entsteht. Also runter mit den Temperaturen. Ab 120 Grad entsteht beim Frittieren Acrylamid, aber erst ab 170 Grad nimmt die Menge sprunghaft zu. Deshalb beim eigenen Herd, der diesmal wirklich Goldes wert ist, nicht über 170 Grad gehen. Überprüfen Sie Thermostaten und Thermometer Ihrer Fritteuse. Die Kartoffelstäbchen nur goldgelb frittieren oder im Backofen bei maximal 180 Grad ausbacken. Die Verwendung von Backpapier verhindert eine zu starke Kontaktbräune und senkt ebenfalls die Acrylamidbelastung.

6 Keine angekeimten Kartoffeln verwenden: Kartoffeln sind heikel, weil sie große Mengen der Aminosäure „Asparagin“ enthalten. Diese Aminosäure ist wesentlich an der Entstehung von Acrylamid beteiligt. Gekeimte Kartoffeln enthalten deutlich größere Mengen Asparagin, wie das Chemische Untersuchungsamt Hagen feststellte. Deshalb sollten sie nur für Salzkartoffeln oder Kartoffelbrei verwendet werden. Für Fritten und Bratkartoffeln nehmen wir frische Kartoffeln. Auch die Kartoffelsorte spielt eine Rolle, bisher fehlen aber genaue Sortentests.

7 Kochen in Wasser ist gefahrlos: Je mehr Wasser ein Lebensmittel enthält, desto weniger Acrylamid wird gemessen. Wenn Sie Kartoffeln, Fleisch und Gemüse in Wasser kochen, hat Acrylamid keine Chance. Es entsteht überhaupt nichts von der unerwünschten Chemikalie. Aber wer isst schon ausschließlich gekochte Lebensmittel? Deshalb beim Braten und Frittieren runter mit den Temperaturen.

8 Sonnenblumenöl ist besser als Palmöl: Beim Braten und Frittieren kommt es auch auf die Ölsorte an. Nach Angaben des Chemischen Untersuchungsamts Hagen sollten auf keinen Fall Frittieröle verwendet werden, die den Entschäumer Silikon (E 900) enthalten. Bei Sonnenblumenöl und Rapsöl wurde weniger Acrylamid gemessen als bei der Verwendung von Palmöl.

9 Wollen Sie wirklich die Rinde vom Brot abschneiden? Ein bekanntes Verbrauchermagazin hat angeregt, die Rinde vom Brot abzumessern und nur das sichere Innenleben zu verputzen. Es stimmt: Auch Brot ist mit Acrylamid belastet. Doch gerade als die ersten Brotmessungen die Runde machten, meldete das US-Fachblatt Journal of Agriculture and Food Chemistry, dass gerade die Brotkruste wertvolle Antioxidantien enthalte.

10 Schimpfen und zetern Sie mal wieder: Ein halbes Jahr ist vergangen, seit die Acrylamidbombe hochgegangen ist. Aber noch immer liegen den Verbrauchern keine Daten über Acrylamidbelastungen in verschiedenen Marken vor. Wir wissen, dass gerade beim Knäckebrot die Messwerte von Hersteller zu Hersteller extrem auseinander gehen. Einige Knäcker sind stark, andere gar nicht belastet. „Ein Unding“, sagt nicht nur Christian Fronczak vom Bundesverband der Verbraucherinitiativen. Fronszak rügt, dass die Fakten nicht längst auf den Tisch kamen und veröffentlicht wurden. Doch wegen des wackeligen Forschungsstands scheut die Politik die Konfrontation mit der Industrie. Sie hat Angst vor Schadensersatzklagen. Auch Renate Künast hatte bisher nicht die Traute, Ross und Reiter zu nennen.

11 Hoffen Sie auf die Evolution: Seit es Feuer gibt, hat der Mensch Acrylamid produziert. „Seit 360.000 Jahren braten wir Lebensmittel mit hohen Temperaturen“, erklärt die Vereinigung amerikanischer Snackfood-Hersteller. Kann uns die lange Erfahrung helfen? Auch die WHO glaubt, dass sich der Mensch im Laufe der Evolution an hoch erhitzte, gebratene und gebackene Speisen gewöhnt habe. Dennoch: In Lebensmittel gehört so wenig Acrylamid wie möglich. Auf diese Formel kann man sich einigen.

12 Bleiben Sie am Ball: Nur 13 Prozent der Verbraucher kennen den Begriff „Acrylamid“. Nur vier Prozent wissen, dass es sich um eine Krebs erregende Substanz handelt. Das wird sich ändern. Die Debatte um Acrylamid hat gerade erst begonnen.