Probleme der Ultramoderne

DAS SCHLAGLOCH    von KERSTIN DECKER

Unsere Aufgeklärtheit besteht in der Einsicht, dass es kein Zuhausemehr geben kann

Man sah den Wegen am Abendlicht an, dass es Heimwege waren. Robert Walser

Das Kind steht auf dem Quedlinburger Marktplatz und sagt: Das ist ja eine Weihnachtskalenderstadt! Es hat noch nie so eine Stadt gesehen. Eine richtige Stadt, sagt es. Verdächtiges Wort. Woher weiß ein Kind, was eine „richtige“ Stadt ist? Und warum versteht ein Kind von heute das Mittelalter auf Anhieb?

Die Utopie der Weihnachtskalender ist das Nachhausekommen, Fenster für Fenster. In unseren modernen Städten kommt man nicht mehr nach Hause, da kommt man sich höchstens abhanden.

Denn moderne Städte sind Umschlagplätze. Wir alle – sofern wir moderne Individuen sind – sind Teil von Umschlagplätzen. Variabel und grenzenlos bewegungsbereit. Auch im Geiste. Das ist unser Stolz. Deshalb besteht unsere ganze Aufgeklärtheit in der Einsicht, dass es das gar nicht geben kann: ein Zuhause. Jedes Zuhause ist zuletzt Fiktion. Wer das nicht durchschaut, kann kein modernes Individuum sein. Darum sind uns auch die Fundamentalisten so fremd. Sie rechnen mit lauter Substanzen. Wir rechnen mit Variablen.

Und dann genügt so ein Marktplatz einer mittelalterlichen Fachwerkstadt, und man möchte auf der Stelle ins Mittelalter umziehen. Das ist skandalös. Das ist schizophren. Diese mittelalterliche Stadt, die aussieht, als könnte sie ein Zuhause sein, ist immerhin Ausdruck einer streng hiercharchischen Welt. Und was würden wir machen, wenn sie die erste Hexe auf dem Marktplatz verbrennen wollen? Eine Gegendemo, eine Unterschriftensammlung? Merkwürdig, dass wir die alten Mauern so ungeteilt „schön“ finden, uns in ihnen geborgener fühlen als in unserer eigenen Welt. Der Gegenwartsmensch muss Anteile in sich tragen, von denen er nichts weiß. Und liegt nicht gar das Eingeständnis darin, dass Gegenwarten, Radikal-Modernen im Grunde immer am Rand der Unbewohnbarkeit stehen?

Alles halb so schlimm – das ist die Sentimentalität der Weihnachtszeit, könnte man sagen. Wohnen ist nun mal eine stockkonservative Tätigkeit. Und „Zuhause“ ist ein stockkonservativer Begriff, schon weil er keinen Plural zulässt. Und Weihnachten ist ohnehin das große Fest der Gegenmoderne: Utopie des Stationären, des Ankommens in einer flüchtigen Welt. Trotzdem – es ist zu einfach. Denn gerade werden wir Zeuge eines revolutionären Bewusstseinswandels. Beinahe unauffällig, Feuilleton für Feuilleton, schreitet er voran. Die Turbogeneration der Dreißigjährigen, die Jungpragmatiker, die Kapitalismuskids, die Senkrechtstarter der neuen „Kreativ“-Berufe entdecken das Stationäre. Aus der „Fun-Generation“, die nie Lust hatte auf eine Revolte, sei die „Fear-Generation“ geworden.

Die Arbeitslosigkeit hat jene erreicht, die glaubten, die Zeichen der Zeit verstanden zu haben, weil sie sich selber für die Zeichen der Zeit hielten: Designer, Werbeleute, Journalisten. „Die Arbeitslosigkeit kriecht langsam von unten nach oben, in der ganzen Gesellschaft wie in meinem Leben auch“, schreibt Henning Sussebach in der Zeit. „Sie kam drüben aus dem Park, wo sie seit Jahren mit den Alkoholikern auf den Bänken saß, ist über die Straße in unser Haus geschlichen … und hat sich jetzt den Werbemann in der vierten Etage gepackt.“

Dass Lebenslinien knicken können wie Aktienkurse – auf diese Grunderfahrung des Ostens nach der Wende waren sie nicht vorbereitet. Und wir hören zum ersten Mal die Antimobilitätsutopie aus dem Munde eines erfolgreichen Dreißigjährigen. Er will wissen, was in einem Jahr ist. Er will wissen, ob er in einem Jahr noch in derselben Stadt wohnt. Dieselbe Arbeit hat. Er will wissen, ob es Sinn hat, seiner Tochter Geschichten zu erzählen, in der die Menschen zwanzig Jahre am selben Ort bleiben. Er will – es steht wirklich so da – „in Würde altern“. Er will ein Quedlinburger Marktplatzleben. Eins, in dem man nicht verloren gehen kann.

Jugend, Reife, Alter. Das Leben als Kreislauf. Dass diese Immer-schneller-Gesellschaft keine Rücksicht nehmen kann auf unseren Lebensbogen, der Voraussetzung für ein erfülltes Leben ist, ist vielleicht ihre bedenklichste Seite. Wie viele schickt sie aus der Zeit des Lernens und der Erwartung ohne Übergang in ein Daueralter des Irgendwie-versorgt-Seins. Und das entscheidende Wort fällt bei dem dreißigjährigen Antimobilitätsutopisten: Angst. Die Mobilität der Angst ist die Panik.

Die Angst der Modernen gegenüber der Welt, die sie selbst hervorgebracht haben, muss irgendwie der Ohnmacht der ersten Menschen vor den Schrecken des Außen gleichen. Häuser sind die Bannung des Schreckens, Bannung des Außen. Häuser nehmen die Angst. Was Henning Sussebach in der Zeit formuliert, ist die Sehnsucht nach einem Leben als Haus.

Die Sozialsysteme der modernen Gesellschaften sind die Ersatzhäuser in längst fließend gewordenen Großgemeinschaften. Sie sollten die Suggestion eines Zuhause tragen: Du kannst nicht verloren gehen. Und sie setzten voraus, dass nur wenige auf solche Zuflucht angewiesen sind.

In unseren modernen Städten kommt man nicht mehr nach Hause, man kommt sich höchstens abhanden

Wie endgültig die Zeit der Häuser vorbei ist, merken wir erst im Augenblick, den manche schon „die Krise“ nennen. Unser moderner Variablenverstand sieht sofort ein – wir können uns solche Häuser nicht mehr leisten. Er kann das sogar positiv formulieren: Jeder ist tendenziell selbst dafür verantwortlich, ob er ein Zuhause findet oder nicht. Natürlich wird auch etwas Neues, Hausähnliches entstehen, aber es wird wohl eher Bungalowcharakter tragen. Oder Wellblechhüttencharakter. Sehr zugig jedenfalls. Der alte stationäre Quedlinburger Marktplatzverstand aber denkt an die Dichtersätze, gefunden lange vor der geplanten Kürzung der Eigenheimzulage: „Wer jetzt kein Haus hat, der baut sich keins mehr.“

Eine Restsympathie haben wir wirklich für die Sozialdemokraten, selbst wenn sie alles falsch machen sollten: Dass ausgerechnet sie die alte Ersatzhauswelt abreißen sollen, für deren Errichtung sie einst standen, grenzt an Überforderung. Schröder hat gelogen, formuliert Stoiber. Lüge? Auch die Lüge ist ein Begriff aus der alten überschaubaren Welt. Sinngemäß hat der Kanzler in seiner jüngsten Verteidigung gegen den Lügenvorwurf das Problem der Ultramoderne formuliert: Es sei ihm nicht möglich gewesen, sich einen realen Überblick über das Ausmaß der Unüberblickbarkeit zu verschaffen. So ungefähr. Lüge suggeriert Beherrschbarkeit.

Aber was, wenn eine Variable in einem Gebäude aus vielen Variablen sich anders verhält als erwartet, wenn noch ein paar andere schwanken? Und mit ein bisschen mehr Wachstum wäre vielleicht alles halb so schlimm gekommen. Auch daher rührt unsere plötzliche Sehnsucht nach stationären Welten. Sie erhalten sich selbst, ohne sich verändern zu müssen. Sie müssen nicht wachsen, um sie selbst zu bleiben. Sie ruhen auf festen Fundamenten statt auf Variablen. Sogar KlassikRadio ahnt das. Es wirbt für seine neue Ave-Maria-CD-Kollektion: „Wenn die Zeiten härter werden …“. Gegrüßt seist du, Maria?