Geschorener Kopf und langer Zopf

Die Mode und die Moderne: Sie rücken zusammen in der Kunst Chinas. Eine Reise zu drei großen Ausstellungen in Guangzhou, Schanghai und Shenzhen. Von unwahrscheinlichen Begegnungen mit Zebras, illegalen Installationen und Vogelschriftzeichen

von BRIGITTE WERNEBURG

Es war ein schlechtes Omen für die Arbeiten, die aus Frankreich kamen, um im üppigen Kunstherbst der Städte Guangzhou, Shenzhen und Schanghai der Öffentlichkeit präsentiert zu werden: Pierre Huyghes Videoinstallation „Grand Ensemble“ für die Biennale in Schanghai blieb aus ungeklärten Ursachen am Flughafen liegen. Die Skulptur des in Paris lebenden Künstlers Huang Yongping, die auf der ersten Triennale in Guangzhou gezeigt werden sollte, wurde gar zersägt und abtransportiert. Damit hatte die Triennale ihren Skandal.

Huang Yongpings „Bat Project II“ stellte eine Kopie des US-EP-3E-Spionageflugzeugs dar, das am 1. April 1991 mit einem chinesischen Abfangjäger zusammengestoßen und auf der Insel Hainan notgelandet war. Erst nachdem chinesische Militärexperten die havarierte Maschine mit ihren hochgeheimen Abhöranlagen und Computern gründlich inspiziert hatten, durften US-Techniker sie auseinander nehmen, in Kisten verpacken und per Frachtflugzeug abtransportieren. Interessanterweise waren sich nun die anwesenden amerikanischen Museumsleute, Kuratoren und Journalisten wie merkwürdigerweise auch ihre chinesischen Kollegen ganz sicher, dass die Zerstörung der Kopie auf Druck des französischen Konsulats in Guangzhou geschah. Nur warum sollten die Franzosen, die weder in den militärischen Vorfall noch in die Kunst-Triennale, etwa als Sponsoren, verwickelt waren, hier Druck ausüben? Tatsächlich konnte man wenige Tage später, am 26. November, in der Zeitung lesen, dass erstmals seit der Affäre um das US-Spionageflugzeug vor mehr als eineinhalb Jahren wieder ein amerikanisches Kriegsschiff in China eingetroffen war. Im Hafen von Qingdao begrüßte die Flotte der Volksbefreiungsarmee im nordchinesischen Meer den amerikanischen Zerstörer „USS Paul F. Foster“, der 1991 als erstes amerikanisches Schiff während des Golfkriegs irakische Ziele mit „Tomahawk“-Raketen beschossen hatte.

In Turbulenzen

Huang Yongpings Flugzeug war in der Version „Bat Project I“ aber schon einmal in Turbulenzen geraten. Im Dezember letzten Jahres sollte es in Shenzhen ausgestellt werden, auch damals kam es nicht dazu. Dass die Arbeit jetzt noch einmal in Guangzhou gezeigt werden sollte, war nicht nur der Versuch einer Wiedergutmachung, es hängt auch mit dem retrospektiven Charakter der Triennale zusammen. „Reinterpretation: A Decade of Experimental Chinese Art 1990–2000“ lautet der Titel der Schau, die Chefkurator Hu Wung von der Universität Chicago organisiert hat. In drei Sektionen „Erinnerung und Wirklichkeit“, „Selbst und Umwelt“ und „Das Globale und das Lokale“ sind 166 Arbeiten von 135 Künstlern zu sehen. Für eine weitere Sektion „Kontinuität des Experimentierens“ wurden 16 Künstler mit eigens für die Triennale zu schaffenden Arbeiten beauftragt. Xu Bing etwa malte drei hübsche, äußerst lebendige Esel zu Zebras um. Ich hätte sie als solche durchgehen lassen, wäre ich nicht auf den Umstand aufmerksam gemacht worden. Wer weiß schon, wie ein Zebra wirklich aussieht?

Das hatten sich vor einigen Jahren auch die chinesische Bauern in der Provinz gedacht, von denen Xu Bing die Idee hat, und das evolutionäre Wunder der Eselsumwandlung vollbracht, um Touristen anzulocken. Diese Bauern mochten nun die Arbeiter sein, die am Rand des Museumsareals ihre Unterkünfte errichtet hatten. Kleine Hütten, die teils aus Stein, teils aus Holz bestehen und gegen den Regen stets mit einer Plane aus jener berühmten blau-weiß-roten Plastikfolie geschützt sind, die wir als Tragetaschen unserer türkischen Import-Export-Geschäfte kennen. Fälschlicherweise hielt ich diese wildwüchsigen Verschläge zunächst für künstlerische Installationen. Schließlich fand die illegale Bautätigkeit an einem dafür höchst unwahrscheinlichen Ort statt, denn das 1997 fertig gestellte Kunstmuseum der Provinz Guangdong liegt elegant an der Uferpromenade des Perl-Flusses. Die neue Konzerthalle ist nah und ebenso die neuen Apartmenthäuser, die auf den Schildern der Immobilienfirmen als „Residences“ angepriesen werden.

Das Experimentieren jedenfalls lag zunächst einmal ganz auf Seiten der westlichen Besucherin, die sich ihren Reim darauf machen musste, wie jetzt Kunst und Leben zu sortieren seien, Selbst und Umwelt, Globales und Lokales. Die Ausstellung freilich stellte den Begriff des Experiments gegen den der Avantgarde. Dieser Begriff war zwar bei zwei früheren, für die Triennale durchaus maßgeblichen China-Avantgarde-Ausstellungen 1989 in Beijing und 1992 im Berliner Haus der Kulturen der Welt im Titel geführt worden, doch inzwischen gilt er als eine Definition der 80er-Jahre. Seine Ersetzung durch den der experimentellen Kunst deutet eine nochmalige Erweiterung des Werkbegriffs und des Begriffs künstlerischer Arbeit an. Tatsächlich lässt sich in China ab Mitte der 90er-Jahre eine ganze Reihe neuer künstlerischer Praktiken beobachten. Besonderes Gewicht hatten zunächst Performance-Aktionen. Im Zusammenhang mit deren Dokumentation gewannen auch Video und Fotografie zunehmend an Bedeutung, auch als eigenständige Bereiche, die ebenso wie Installationen einen immer breiteren Raum einnahmen.

Xu Bing zum Beispiel, der Mann mit den Zebra-Eseln, führte 1990 eine ganz wichtige Performance durch, als er mit einer großen Mannschaft aus Studenten und Bauern zur chinesischen Mauer reiste, um dort einen Tintenabdruck von einem dreißig Meter langen Mauerabschnitt zu machen. Die Aktion „Ghosts Pounding the Wall“, die auf Video und Foto festgehalten wurde, dauerte 24 Tage, die Mannschaft trug dabei Uniformen, die mit Schriftzeichen versehen waren, die Xu Bing selbst entwickelt hatte. Ein Teil der damals angefertigten Papierbahnen flattert nun fragil in der Eingangshalle des Guangdong Museum of Arts und lässt das mächtige Bauwerk der Chinesischen Mauer als volumenlosen Schatten wieder auferstehen. Die Schriftzeichen nahm Xu Bing für seine Arbeit wieder auf, die er auf der Schanghai-Biennale zeigt. Sie startete am 22. November, vier Tage nach der Eröffnung der Guangzhou-Triennale. In Schanghai verfolgt er die Entwicklung des chinesischen Schriftzeichens für Vogel zurück. Die komplexen Hieroglyphen aus Styropor, die er in großen Mengen in den Raum hing, werden dabei im Laufe ihrer Rückentwicklung immer abbildhafter, bis sie schließlich als Vogel-Piktogramme davonzufliegen scheinen.

Konzertierte Aktion

Die zeitliche Nähe der Eröffnungen der beiden Ausstellungen ist einer Absprache der Museen gedankt, um vor allem auch ausländischen Besuchern eine kurze, konzentrierte Kunstreise durch das südliche China ans Herz zu legen. Selbst das städtische Museum in Shenzhen nutzte die Gunst der Stunde. Zwei Tage nach Beginn der Triennale eröffnete das He Xiangning Art Museum „Image is Power“ mit den international bekannten Malerstars Wang Guangyi, Zhang Xiaogang und Fang Lijun. Obwohl diese Künstler in allen westlichen Sammlungen, heißen sie nun Ludwig oder Flick, vertreten sind, kennt sie die chinesische Öffentlichkeit erst seit vier Jahren. Damals berichteten chinesische Mode- und Lifestylemagazine erstmals über sie, vor allem über ihren aufwendigen und luxuriösen Lebensstil, der ihren Westhonoraren gedankt ist. Pi Li, einer der Kuratoren der Ausstellung, bedauert nun freilich in seinem sehr informativen Text über die Entwicklung der chinesischen Gegenwartskunst in den 90er-Jahren im Katalog der Guangzhou-Triennale den Erfolg exakt jener Maler, die unter dem Label Political Pop und Cynical Realism internationale Karriere machten. Denn ihre Wertschätzung unter dem westlichen Kriterium der Dissidenz habe ihren „international-bestselling style“ zum Maßstab der künstlerischen Entwicklung in China werden lassen. Die experimentelle Kunst der 90er-Jahre sei, so schreibt er, auf der Biennale von Venedig 1999, wo Harald Szeemann mit nicht weniger als 16 chinesischen Künstlern aufwartete, jedenfalls nicht vertreten gewesen. Sehr wohl dagegen kommerzielle Interessen. In Shenzhen meinte Pi Li jetzt, man müsse die Künstler und ihre Arbeiten jenseits der Labels noch einmal genauer betrachten: „Reinterpretation is Power“ oder die Kunst, wie man sich in ein Dilemma hinein- und auch wieder herausarbeitet.

Seine kritische Darstellung im durchweg systematisch angelegten Katalog der Triennale-Ausstellung, der Ansprüchen der akademischen Forschung genügt, war dann allerdings in Schanghai mehr als nützlich, die seltsame Organisation der Biennale zu deuten. Auch wenn sie hinsichtlich der kuratorischen Arbeit als durchaus gelungen gelten darf – fragwürdig ist allein die ausstellungstechnisch schlecht verbundene Kombination von Kunst und Architektur unter dem Biennale-Motto „Urban Creation“ –, ließ sie in anderer Hinsicht zu wünschen. Neben dem Schanghai Art Museum trat als Koorganisator die Shanghai GT Courtyard Cultural Investments Ltd. auf. Die Gesellschaft des amerikanischen Anwalts Handel Lee widmet gegenwärtig am Bund, der berühmten Uferpromenade mit ihren Gründerzeitbauten, das Haus Nummer 3 in einen Komplex aus Luxusläden, Kunstgalerie, Edelrestaurants und Nachtclubs um. Dass die Kooperation mit der privaten Firma, die in Beijing eine Galerie für zeitgenössische chinesische Kunst unterhält, die organisatorische Professionalität erhöht hätte, lässt sich nicht sagen, gleichgültig auf welcher Seite der Fehler liegt. So gab es zwar haufenweise DirektorInnen der Biennale, aber kein Pressebüro. Künstler beklagten sich, dass sie die Ausgaben für Herstellung oder Transport ihrer Kunstwerke nicht, wie zugesagt, ersetzt bekamen. Gleichzeitig wurde den eingeladenen amerikanischen Sammlern, Kuratoren und Museumsleuten ein Umschlag mit Bargeld überreicht, für die Spesen, die so anfallen. Dass bei all diesen Ungereimtheiten die Unterstützung der Biennale durch die arme Stadt Berlin mit nicht weniger als drei Institutionen im Katalog gewürdigt wird, als da sind Hauptstadtkulturfonds, Klassenlotterie und Senatsverwaltung für Wissenschaft und Kultur, nicht zu vergessen der (fälschlich behauptete) Beitrag der Bundeskulturstiftung, der Bundeszentrale für Politische Bildung und der Kultur in den neuen Ländern, kann wohl nur mit einer ganz heftigen Berliner Liebe für den Standort Schanghai erklärt werden. Oder mit der sehr guten Lobbyarbeit von Klaus Biesenbach, dem künstlerischen Leiter der Kunst-Werke Berlin und Chefkurator am P. S. 1 in New York, der in dieser Doppelfunktion als einer der sechs Kuratoren der Schanghai-Biennale fungierte. Was New Yorker Namen bei Sponsorship und Support angeht: Fehlanzeige.

Aktuelle Arbeiten

Dennoch, die Biennale in Schanghai erlaubte es, neueste Arbeiten von Künstlern zu sehen, die man zuvor in Guangzhou mit ihren früheren Werken kennen gelernt hatte. Lin Tianmiao zum Beispiel, die gern mit weiblich konnotierten Materialien und Verarbeitungsmethoden umgeht, hat für ihre „Plait/Braid“ Installation von 1999 ein Selbstporträt mit geschorenem Kopf auf eine 5 mal 2,5 Meter große Leinwand gedruckt, in die sie ungefärbtes Baumwollgarn verankerte: Die Fäden, die auf der Rückseite der Leinwand herauskamen, flocht sie zu einem dicken Zopf, der am Ende immer schmaler wird und in drei Fäden endet. 2002, in Schanghai, ist jetzt das Superzeichen Haar und seine kleidsame, bescheidene Aufführung als Zopf zum luxuriösen Gespinst geworden, aus dem Lin Tianmiao eine Serie von Skulpturen schuf, von denen man nicht so recht sagen kann, ob sie nicht völlig abgefahrene Rokokokostüme sind. Die hinreißenden Kleiderarchitekturen könnten Rei Kawakubo von Comme des Garçon neidisch machen. Dem Modeverweis gaben dann auch die Videoprojektionen, die Wang Gongxin beisteuerte, weiteren Sinn. Sie zeigen das alte und das neue Gesicht der chinesischen Großstadt, in dem Mannequins die haarigen Gebilde in eine ebenso haarige Umbruchzeit hineintragen: Macht Mode oder Architektur die Essenz der kapitalistischen Großstadt aus?

Dass Frauen in der Kunstszene überrepräsentiert wären, lässt sich auch für China nicht behaupten. Doch ihre Arbeiten fallen auf. In Guangzhou gelingt Yin Xiuzhen eine ebenso schlichte wie schlagende biografische Skizze, indem sie ihre abgelegten Blusen, die alle eine Lebenszeit repräsentieren, in einen Koffer legt und einbetoniert. Auch in Cui Xiuwens Video „Ladies“ ist die Kleidung, das Herrichten und Schminken Signatur des Lebens jener Mädchen, die sie in der Toilette eines luxuriösen Nachtclubs filmte. Es handelt sich um Prostituierte, die hier Pause machen, mit Kunden telefonieren, sich neu bemalen oder ihre Abrechnung machen. Es ist eben auch in China die Situation der Frauen der stärkste Indikator für die Modernisierung der Gesellschaft und das Aufkommen einer „sozialistischen Markwirtschaft“, für die Deng Xiaoping die Parole ausgab, „to get rich is glorious“. In seiner Fotoserie „On the Wall“ auf der Biennale in Schanghai hat Weng Fen daher zu Recht ein kleines Mädchen auf die Mauer gesetzt, die die Grenze zwischen dem alten und dem neuen China markiert.

First Guangzhou Triennial, bis 19. 1. 2003; Image ist Power, bis 18. 12.; Shanghai Biennial, bis 20. 1. 2003, englischsprachige Kataloge