Deutsche LehrerInnen sind reif für die Klinik

Im Weltvergleich stehen Lehrer zwar gut da, aber ihre Depressionsrate ist hoch. Die Böll-Stiftung sucht Auswege

BERLIN taz ■ Als vor einigen Wochen „Bildung auf einen Blick“ erschien, war eine Antwort auf die Schulkrise unverrückbar gegeben: Das Gejammere der Lehrer ist unberechtigt! Die Forscher der „Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit“ (OECD), die den Bildungsüberblick publizieren, hatten Brisantes herausgefunden. Deutsche Lehrer verdienen viel, arbeiten wenig und sind die ältesten in der OECD – im internationalen Vergleich. Die Nation zerriss sich das Maul.

Zwei Tage später hatte, jedenfalls in Berlin, die böse Lästerei schon wieder ein Ende. Da wurde bekannt, dass Lehrer ein psychiatrisierter Stand sind. Keine Berufsgruppe legt sich so oft beim Psychologen auf die Couch. Keine Beamtenart wechselt so früh in den Vorruhestand. 60 Prozent der Klienten einer Depressionssprechstunde an der Freien Universität Berlin, so die schockierende Meldung, sind Lehrer.

Vor 40 Jahren war das noch ganz anders. Da sah Theodor W. Adorno zwar gleichfalls gesellschaftliche Vorstellungen über den Lehrerberuf am Werk, „die ein psychisches Verbot über den Beruf verhängen“. Nur hatten die Damen und Herren hinterm Pult damals nicht den Ruf der Geprügelten, sondern der Prügler. Als „Unteroffiziere“ sah man die Lehrer an – obwohl sie es wohl längst nicht mehr waren. Alte überkommene Vorstellungen aber hatten sich in den Köpfen der Menschen derart festgesetzt, dass sie die Pauker immerfort mit dem Erziehungsinstrument Preußens herumfuchteln sahen, dem Rohrstock.

Vom Intellektuellen zum Depri vom Dienst

Adorno setzte noch einen drauf. Die déformation professionelle, die beruflich bedingte Charakterlücke, werde im Falle der Lehrer „geradezu die Definition des Berufes selbst.“ Was kann das heute bedeuten? Dass für Lehrer ihr Gedemütigtsein zum Charakteristikum des Berufes wird? Die Umfragen vom rapide sinkenden Ansehen der Lehrer legen das nahe. Parallel zum Image der Lehrer rutscht ihr Selbstbewusstein in den Keller. Der Lehrer von einst, Respektsperson und Intellektueller, ist diesem Typus gewichen: dem Depressiven vom Dienst.

Manches Beispiel aus der Praxis bestätigt das Bild. Als vor ein paar Jahren eine Berliner Hauptschule in einem viel beachteten Modellversuch Künstler und Artisten als Amateurlehrer ins Haus holte, geschah zweierlei: Die Schüler im Kreuzberger Problemkiez, die ihre Lehrer vorher teilweise aus dem Klassenzimmer jagten, hatten plötzlich durchsetzungsfähige, anerkannte Bezugspersonen vor sich. Und ein Teil der professionellen Lehrer stürzte in eine tiefe Sinnkrise. Ein Drittel des festen Lehrerpersonals wechselte die Schule.

Ein Umsteuern beim Berufsbild Lehrer fällt, wiewohl es Politik, Standesvertreter und Eltern wünschen, alles andere als leicht. Diverse Kultusminister wollen zwar eine Imagekampagne für den geschlagenen Stand starten. Nur der Erfolg steht dahin. Denn auch das Selbstbild der Lehrer ist Produkt einer vielsemestrigen Sozialisation.

„Professionelles Wissen von Lehrpersonen ist hochkomplex, und sein Erwerb ist eine langwierige Angelegenheit im Rahmen einer Spezialausbildung“, bestätigt etwa die Erziehungswissenschaftlerin Sigrid Blömeke. Die Pädagogik-Professorin an der Berliner Humboldt-Universität nimmt ihre Erkenntnis zum Anlass, die Rekrutierung so genannter Quereinsteiger in die Lehrerkollegien rundweg abzulehnen. Wer Handwerker, Künstler, Sportler, Wissenschaftler, Juristen oder Mediziner in die Schule hole, mag sich über eine Bereicherung freuen. „Die Folgen für die Qualität des Unterrichts dürften allerdings verheerend sein.“ Blömeke, die Pädagogin mit Lehrstuhl, stimmte so nicht nur in den Chor der Gewerkschaftsdogmatiker ein. Sie bremste auch den jüngsten Versuch, das angekratzte Bild des Lehrers wieder glatt zu polieren.

Die Bildungsexperten bei der Heinrich-Böll-Stiftung nämlich haben gerade ihr jüngstes Gutachten auf den Markt gebracht. Darin steht an prominenter Stelle, dass die „pädagogische Arbeit einer Schule nicht ausschließlich auf grundständig ausgebildete Lehrpersonen zu gründen“ sei. Daher sollten andere Berufe als Lehrer – zum Unterrichten – in die Schule geholt werden. Und obendrein psychologische und sozialpädagogische Fachkräfte für Erziehungsfragen. Frau Blömeke, eingeladen, das Gutachten zu begutachten, stellte dem Ansinnen ihrer Auftraggeber den Totenschein aus: Amateurlehrer dürfen nicht das Kerngeschäft der Schule übernehmen. „Oder würden Sie in einer Klinik den Personalsachbearbeiter an Ihre Niere lassen?“

Das musste den klugen Leuten von der Heinrich-Böll-Stiftung gleich doppelt aufstoßen. Denn auch sie haben sich an anderer, ebenfalls zentraler Stelle medizinischer Terminologie bedient. Um die Verantwortung der Lehrer für das Wohl des Kindes herauszustellen, mahnten sie einen „hippokratischen Eid“ für Lehrer an. Ein derart dramatisch aufgewertetes Berufsethos könnte, so die Gutachter, den Lehrern „die notwendige Anerkennung ihrer Arbeit durch die Öffentlichkeit“ zurückgeben.

Bei Lehrern lösen solche Sätze Wohlbefinden aus. Sie wissen, dass sie etwas von der Haltung wiedergewinnen müssen, die den Lehrer im Dorf wie in der Stadt auszeichnete: Der erste homme de lettre am Platze zu sein, der Intellektuelle im Vollkörperkontakt zu den gemeinen Leuten. Den Experten bereitet die Leitbild- und PR-Aktion allerdings Kopfzerbrechen.

Ewald Terhart, der derzeit von der Kultusobrigkeit am meisten bemühte deutsche Erziehungswissenschaftler, konnte sich bei aller Höflichkeit nicht zu einem Ja zu kodifizierten ethischen Grundsätzen durchringen. Ethos lasse sich schwer im Studium herstellen, mäkelte der Mann, der für die Kultusminister über die Reform der Lehrerausbildung räsoniert hat. Ethos sei erstens kaum zu lehren. Und zweitens solle es sich ohnehin viel später einstellen – im Laufe der ersten Berufsjahre, nicht aber an der Uni. Damit war ein zweiter wichtiger Aspekt der Böll-Kommission erledigt.

Wie ramponiert der Berufsstand ist, zeigte sich freilich auch bei Bölls. Sie hatten zur Vorstellung ihres Lehrerpapiers lauter Experten geladen. Dazu zählte wie selbstverständlich Gerdamarie Schmitz – eine Psychologin und Fachfrau für Burn-out. Laut klinischer Studien verursacht diese emotionale und intellektuelle Erschöpfung durch Dauerstress 70 Prozent der Dienstunfähigkeiten bei Lehrern.

Schmitz zählte einfache und gut wirkende Maßnahmen auf, um die so genannte Selbstwirksamkeit von Lehrern zu erhöhen. Allerdings, so schränkte sie ein, Burn-out sei ein langwieriges Phänomen. Oder anders: Es gibt allerlei Mittelchen – nur ist das Leiden der Lehrer ein schweres.

CHRISTIAN FÜLLER

www.boell.de