Mehr als Rhetorik

Globalisierungskritiker in aller Welt sind skeptisch: Ist es schon ein Erfolg, wenn Weltbank und Währungsfonds ihnen in ihrer Kritik teilweise Recht geben?

von ULRIKE WINKELMANN

Traut ihnen nicht – sie reden nur: So könnte man die aktuelle Kritik an den Weltfinanzinstitutionen, besonders aber der Weltbank, zusammenfassen. Bei den Kampagneros von Attac & Co. wird diese Kluft sogar zum eigenen Thema. „Wolfensohns schöne Rede steht in direktem Gegensatz zum Handeln der Weltbank“, erklärte etwa Ende Oktober Knud Vöcking von der Organisation Urgewald.

Beim Umwelt- und Entwicklungsgipfel in Johannesburg Anfang September waren die Chefs der Weltbank durch deutliche Aussagen zum Thema Umweltschutz aufgefallen. Kurz zuvor hatte Weltbankpräsident James Wolfensohn den Weltentwicklungsbericht vorgestellt und mit der Aussage verblüfft, Ressourcenschonung und Armutsbekämpfung seien gleichrangig behandelt worden.

Urgewald nun regt sich darüber auf, dass die Aufwertung des Themas Umwelt die Weltbank offenbar nicht hindert, ihre neuen Richtlinien zum Schutz der Regenwälder zu verwässern und so deren kommerzielle Ausbeutung zu begünstigen. Nach gleichem Muster argumentiert hierzu auch Bruce Rich von der Organisation Environmental Defense: „Zwischen der Rhetorik und der Realität der Bank klafft ein Abgrund so groß wie der Grand Canyon“, lästerte er in der Financial Times Deutschland.

Der Soziologe Jean Ziegler, einer der prominentesten Vertreter der Globalisierungskritik à la Attac, deutet gleich die gesamte Weltbankpolitik nach diesem Muster: „Schönredner“ seien seit Jahren mit nichts anderem beschäftigt, als das wahre Wesen der Weltbank als „Hochburg des neoliberalen Dogmas“ zu verschleiern. Wolfensohn und sein Führungsclub seien sicherlich gut erzogene Kunstliebhaber, die in wohlgesetzten Worten die immer neuen Forderungen von Nichtregierungsorganisationen, Grünen und Linken aufnähmen.

Allein: „Sosehr sich ihre Theorien wandeln und anpassen mögen, ihre Praxis bleibt stets dieselbe“, schreibt Ziegler in seinem jüngsten Buch „Les Nouveaux Maîtres du monde“ (erscheint als „Die neuen Herrscher der Welt“ im Januar 2003, Auszüge gab es in der Le monde diplomatique, Oktober 2002, zu lesen). Ziel sei immer die Öffnung der Länder für das „raubtierhafte globalisierte Kapital“. Scharf greift Ziegler auch die Einrichtung einer „Abteilung für Soziales“, in der Weltbank an, die auswerten soll, welche gesellschaftlichen Auswirkungen die durch die Weltbank geförderten Projekte haben, sei es ein Staudamm oder eine Flussbegradigung.

Doch weil die Abteilung keine Entscheidungsbefugnisse habe, sei es egal, was da zutage gefördert und aufgeschrieben werde, so Ziegler: Es werde folgenlos bleiben. Das klingt zunächst plausibel – aber verhält es sich auch so in der Wirklichkeit? Gerne wird behauptet, dass Wolfensohn mit der Schaffung der Sozialabteilung darauf reagiert habe, dass im Jahr 2000 der Chefökonom und Vizechef der Bank, Joseph Stiglitz, sich selbst einen lautstarken Abgang erlaubte.

Stiglitz‘ Kritik an der sozialen Blindheit aller Weltfinanzinstitutionen habe, meint auch Ziegler, den Chef Wolfensohn tatsächlich erschreckt. Gerade von Stiglitz muss Ziegler sich jedoch widerlegen lassen. Der Banker ist bestes Beispiel dafür, dass Worte, Worte, Worte etwas bewegen. Denn seit seinem türenschlagenden Austritt aus der Weltbank macht er nichts anderes als Worte.

Und sollte es wirklich Zufall sein, dass er damit in jedem Bericht der vergangenen zwei Jahre zitiert wird, in dem erklärt wird, die Ära des Marktfundamentalismus in den Wirtschaftswissenschaften sei beendet? Spätestens seit der Veröffentlichung der deutschen Fassung seines Buchs „Die Schatten der Globalisierung“ im vergangenen Frühjahr ist der Exchefökonom und Wirtschaftsnobelpreisträger 2001 auch für die hiesigen Globalisierungskritiker der Kronzeuge schlechthin.

Wer könnte auch besser erklären als Joseph Stiglitz, wer Schuld hat am Elend der Welt? Stiglitz greift immer in die Vollen – wobei man hinzufügen muss, dass der ehemalige Globalisierer vor allem die mächtigste Globalisierungsmaschine und die Schwesterorganisation der Weltbank, den Internationalen Währungsfonds (IWF), angreift.

Die Weltbank dagegen habe, jedenfalls zu seiner Zeit, immer nur das Beste gewollt. Keine Wirtschaftskrise der letzten zehn Jahre, schreibt Stiglitz, die nicht vom IWF noch verschlimmert worden wäre: Er zwang Staaten, die Inflation zu drücken, die Zinsen zu heben, öffentliches Eigentum zu privatisieren und ihre Märkte nach außen zu öffnen. Doch ob Russland, Indonesien, Äthiopien oder Tschechien: Diese Maßnahmen nutzte eine schmale Elite, sich zu bereichern und ihr Geld in der Schweiz anzulegen, während die restliche Bevölkerung verelendete.

Länder dagegen, die mit dem IWF nicht kooperierten, hatten und haben die Chance, ohne gravierende Härten ihre Volkswirtschaften den Bedingungen des globalen Marktes anzupassen. Stück für Stück, wohlgemerkt, und mit langsamem Abbau von Handelsbeschränkungen. Beispiele: Botswana, Polen, die Volksrepublik China. Als etwa der IWF Ende 1998 Geld nach Russland pumpte, um den Rubel zu stützen, war dem ein langer Streit zwischen Fonds und Bank vorausgegangen.

Die Weltbank bezweifelte, ob es überhaupt Sinn machte, ein Land mit Krediten zu versorgen, dessen Regierung und Verwaltung als vollkommen korrupt bekannt waren. Es ging um insgesamt 22,6 Milliarden Dollar. Tatsächlich, so Stiglitz, dauerte es nur Tage, bis der Rubel trotz des Kredits abstürzte und die Milliarden auf Schweizer und zypriotischen Bankkonten wieder auftauchten. Die russische Oligarchie hatte sich alles unter den Nagel gerissen und außer Landes geschafft.

Stiglitz erzählt: „Einige von uns meinten spöttisch, der IWF hätte uns allen das Leben leichter gemacht, wenn er das Geld direkt auf die Schweizer und zypriotischen Konten überwiesen hätte.“ Solche Anekdoten können erhellender sein als die Analysen des Keynesianers Stiglitz. Denn dass man auf jede wohlbegründete Behauptung eines Volkswirtschaftlers mit ebenso begründetem Gegenteil antworten kann, wissen selbst Nichtökonomen.

Zwar hat Stiglitz ein überzeugendes Empfehlungsschreiben für den 1946 verstorbenen Konjunkturtheoretiker John Maynard Keynes verfasst, aber auch Laien dürfte dämmern, dass staatlicher Lenkung einer Ökonomie schon allein deshalb ein Problem anhaftet, weil Regierungen nicht unbedingt weniger korrupt sind als Wirtschaftsbosse. Ein zynischer Scherz jenseits aller Theorie aber zeigt: Wenn die Empörung über Ungerechtigkeit und falsche Entscheidungen sich nicht mehr einklemmen lässt in sachliche Berichte an Auftrag- oder Arbeitgeber, sucht sie sich neue Medien.

Dass viele Schwellen- und Drittweltländer sehr unter der Erpressung des IWF – Unterstützung nur gegen Marktöffnung – gelitten haben, hat man inzwischen auch in Zeitungen lesen können. Aber dass Politiker dieser Staaten den Begriff IWF so benutzen, als sprächen sie von einer Seuche („wir hatten gerade den IWF“), macht es viel deutlicher: Die IWF-Politik ist anders, jedenfalls nicht mit einer Rosskur zu vergleichen – tut erst sehr weh, heilt dafür später umso schneller –, sondern mit einer schweren Krankheit, die ein Land weit zurückwerfen kann.

Es sind auch weniger die Erläuterungen zum wirtschaftlichen Handeln selbst, die helfen, die Weltfinanzarchitektur zu verstehen. Es ist interessant zu erfahren, wie die Aasgeiermeute der international agierenden Spekulanten über einem Land kreist, dem die Abwertung seiner Währung droht, um durch Devisengeschäfte Profit aus diesem Unglück zu schlagen. Pfui. Aber aus der moralischen Ecke, wo schon all die anderen empörten, jedoch leider ohnmächtigen guten Menschen stehen, kommt man erst heraus, wenn man sich Stiglitz‘ Politikempfehlung näher anschaut: Reden hilft, sagt er.

Und zwar aus einem einfach zu verstehenden Grund: Ökonomie ist mindestens so sehr Ideologie, also Rhetorik, wie Wissenschaft, also Statistik. Marktfundamentalisten rechtfertigen ihr Tun mit einem Baukastenset aus Metaphern, die die universelle Geltung ihrer Regeln veranschaulichen sollen. Neben dem genannten Bild von der „Rosskur“ dürfte das beliebteste Bild aus diesem Fundus sein, dass eine Flut alle Boote flott macht, auch die kleinen – was bedeuten soll, dass von Geldströmen starke wie schwache Unternehmen profitieren. Stiglitz nimmt die Metaphern auf und sagt: Falsch, denn die kleinen Boote kentern und sind verloren.

Doch Stiglitz arbeitet nicht allein mit der aufklärenden Sprachkraft der Anekdote, des Witzes und des Sprachbildes. Er begegnet auch just dem Vorwurf seiner mittlerweile großen Anhängerschar, dass in der Debatte über die Reform der Weltfinanzarchitektur deren Vertreter zwar alle unglaublich modern plaudern können, dies jedoch keine Auswirkungen auf die Entscheidungen zu haben scheint. Ja, gibt Stiglitz zu, inzwischen führen Weltbank und IWF die gleichen Vokabeln wie die Antiglobalisierungsbewegung im Munde: Transparenz, Armutsbekämpfung, Partizipation. Das Misstrauen der armen Länder gegenüber so viel verbalem Wohlwollen sei berechtigt. „Doch die Zyniker haben nur zum Teil Recht. Diese Krise weckt das Gefühl, dass etwas mit dem Prozess der Globalisierung nicht stimmt.“ Angesichts des politisch bildenden Effekts, den die Globalisierungskritiker etwa von Attac auch in den Staaten der Globalisierungsgewinner in wenigen Jahren bewirkt haben, ist dies noch eine sehr zurückhaltende Aussage.

Selbst wenn zwischen Rhetorik und Wirklichkeit, zwischen Anspruch und Handeln eine Lücke klaffe, so zwinge ihre eigene Rhetorik die Institutionen zu mehr Offenheit, zur Angleichung der eigenen Informationspraxis etwa an Standards demokratischer Staaten. Das geben auch die Weltbankkritiker zu: Die Beschwörung der Macht von Transparenz hat dazu geführt, dass kaum eine Institution ihre Debatten so offen führt wie die Weltbank – die immerhin über zehntausend Mitarbeiter beschäftigt.

Und kaum eine Diskussionsvorlage, die man sich nicht aus dem Internet (www.worldbank.org) ziehen könnte. Andererseits hat sich die Kritik an Weltbankentscheidungen im Einzelfall damit nicht erledigt. Um auf das zu Beginn genannte Beispiel zurückzukommen: Ende Oktober hat die Bank ihre Richtlinie zur Waldpolitik auf Druck der Nichtregierungsorganisationen wie Urgewald zwar leicht verändert. Aber nachdem „wir das Ding als Ganzes so heftig kritisierten, haben die bei der Feinabstimmung das einfach hinter verschlossenen Türen gemacht“, sagt Urgewald-Sprecher Vöcking. Die Bedingungen von Transparenz und Dialog werden dann wohl immer noch von der Bank selbst bestimmt.

ULRIKE WINKELMANN, 31, ist Inlandsredakteurin der taz