Besinnliche Trompete zur Weihnachtszeit

Sieben Regisseure in den Stromschnellen der Zeit: „Ten Minutes Older“ ist ein Episodenfilm wie ein Adventskalender – aber Naschen macht nicht satt

Ursprünglich hatte es, erklärt der Produzent Ulrich Felsberg, „nur eine Reihung von Kurzfilmen namhafter Regisseure“ sein sollen. Gute Idee. Nichts spricht gegen einen abendfüllenden, offenen Raum für Filme, und warum sollte dieses Projekt dann auch nicht so angekündigt werden. In diesem Sinne klänge der Titel „Ten Minutes Older“ wie eine sarkastische Antwort auf die notorische Sinnfrage: Und wo ist der Zusammenhang zwischen den einzelnen Filmen? Nach jedem bist du zehn Minuten älter.

Doch nein, um derart ostentative Verweigerung soll es nicht gehen. Schließlich sei, so Felsberg weiter, „der gesamte Film zu einer inspirierten Kompilation zusammengewachsen“. Damit wir das auch merken, ist der Sammlung ein wuchtiges Zitat aus Marc Aurels „Selbstbetrachtungen“ vorangestellt, in dem von der Zeit als einem alle Dinge forttragenden Strom die Rede ist; Letzterer wird uns dann auch prompt vor jedem einzelnen der sieben Filme hergezeigt. „Die Zeit ist ein Fluss“, repetieren beharrlich die Momentaufnahmen irgendeines fließendes Gewässers, und dazu spielt Hugh Masekela eine besinnliche Trompete. Darum heißt „Ten Minutes Older“ auch im Untertitel „The Trumpet“.

Bei so viel Bedeutungsvorschuss und proklamierter Tiefenwirkung wirkt Aki Kaurismäkis Eröffnungsbeitrag „Hunde haben keine Hölle“ wie reines Gegengift. Ohne nähere Begründung und Namen verlässt ein Herr mit einem Buster-Keaton-Hut die Ausnüchterungszelle, um auf dem Weg zum Zug nach Sibirien seinen Anteil einer Autowerkstatt an seinen Kompagnon zu verkaufen und sich mit einer Küchenangestellten eines schlecht besuchten Lokals zu verloben. Stoisch und unerklärt wie das Licht, das streng von oben auf die Akteure fällt, macht sich das Paar auf die Reise, und im Zugabteil sind die zehn Minuten vorbei.

Auf Farbe folgt nun Schwarz-Weiß und auf selbstverständliche Verschlossenheit die Weiterführung des symbolischen Angebots. Víctor Erices „Lebenslinie“ ergänzt die alles verbindenden Fluss-Bilder mit Uhren und die Trompetenklänge mit dem Ticken der vergehenden Zeit. Ruhig verstreicht ein heißer Nachmittag, und wie nebenbei droht ein Baby zu sterben, bevor der matte Gleichklang der ländlich-spanischen Idylle jäh unterbrochen und das Kind gerettet wird. Verweise auf den Juni 1940, deutsche Truppen nähern sich Spanien, erhöhen die bereits weithin ausgeschöpfte Metaphorik, bevor Werner Herzog mit seiner Dokumentation „Zehntausend Jahre älter“ die dritte der Erzählformen einführt, die uns in „Ten Minutes Older“ begegnet.

Herzogs zehn Minuten handeln von der Entdeckung des Stamms der Uru Eus 1981 im Urwaldgrenzgebiet zwischen Brasilien und Bolivien. Wir erfahren, dass sie „ohne das Wissen um Metall wie im Mittelalter lebten“ und ihre Entdeckung zugleich ihren Untergang durch für uns gewöhnliche Krankheiten bedeutete. Bestürzend ist dabei jedoch nicht nur das Schicksal der Uru Eus und ihres Häuptlings Tari, sondern auch dessen filmische Realisierung: Wenn Tari TBC-geschwächt singend und tanzend ein Stammesritual für Herzogs Kamera – für uns – aufführt und nach einem Hustenanfall von seinem Bruder ersetzt wird, wird der zoologische Gestus des Blicks am deutlichsten. Diese offenbar unbewusste, wie automatisch eingenommene Kolonialherren-Perspektive wird gleichzeitig zum besten Bild der Zerstörung durch die interessierte „Zivilisation“.

Nachdem Jim Jarmusch dann in Schwarz-Weiß die Dreh- und Zigarettenpause einer Schauspielerin (Chloe Sevigny) in ihrem Trailer beobachtet und Wim Wenders danach gekonnt und uninteressant die Anekdote eines Mannes erzählt, der sich mit einer ungewollten Überdosis irgendeiner Droge am Steuer seines Wagens auf dem Weg in die nächstbeste Klinik befindet, kommt mit Spike Lees „We Wuz Robbed“ die nächste Autoren-Doku. Hier wird in Windeseile der Wahlbetrug rekonstruiert, der im Miami vom November 2000 Präsident Bush ins Amt beförderte. Dieses Stück Gegenpropaganda hat Drive und bleibt letztlich das einzige Beispiel in „Ten Minutes Older“, das überhaupt so etwas wie eine Dringlichkeit auf der Suche nach Form oder Wahrheit vermittelt.

Auch der letzte Film, Chen Kaiges Geschichte über einen Verlust persönlicher Vergangenheit im heutigen Beijing, ändert nichts daran, dass die stärkste Verbindung zwischen diesen Kurzfilmen nicht das bedeutungsschwere Motto ist, sondern eine in sich ruhende Selbstverständlichkeit, die erst einmal nirgendwohin will. Vielleicht hätte das anders ausgesehen, wenn „Ten Minutes Older“ nicht nur „namhaften Regisseuren“ diesen Raum gegeben hätte.

JAN DISTELMEYER

„Ten Minutes Older“. BRD 2002, 91 Min.