Abschied von der Bedeutung

Angenehm unverständlich: Eine Ausstellung im Pariser Centre George Pompidou widmet sich, mit vielen Gimmicks, dem Vermächtnis des obsessiven Denkers und Semiotikers Roland Barthes

Aus dem Pathologen der Fünfzigerjahre wird ein schrulliger Chronist jener Ära

von KATHARINA VOSS

Als man in den Sechzigern und Siebzigern die Idee hatte, Kultur zu demokratisieren, da regierte in Frankreich ein Mann, der hier eine wundervolle Gelegenheit ahnte, sich selbst ein Denkmal zu setzen. So entstand das Pariser Centre national d’art et de culture Georges Pompidou; eine Kunstmaschine, der aber schon 1977, im Jahre ihrer Geburt, von Jean Baudrillard die Grabrede geschrieben wurde: Alles, was im Centre passieren könne, sei von vornherein zum Scheitern verurteilt, meinte er. Denn der Versuch, Avantgarde und Gegenkunst gemeinsam in einem staatlichen Museum auszustellen, sei absurd: Die Kunst werde vernichtet, „absorbiert“, das Publikum auch. Der Erfolg, den das Centre von Anfang an hatte, sei allein dem unbewussten Hass geschuldet, den das Publikum auf Kultur und Gegenkultur hege, weshalb es, das Publikum, darauf hinarbeite, das Gebäude unter seinem eigenen Gewicht zum Einsturz zu bringen.

Bis jetzt hat der Kulturmüllschlucker jedoch standgehalten und absorbiert unbeirrt weiter alles an Kunst und Kultur, was dem sich selbst als irgendwie liberal und intellektuell verstehenden Frankreich lieb und teuer ist. Zurzeit ist es Roland Barthes, der verdaut wird, einst Nestbeschmutzer der heiligen französischen Akademie, mittlerweile als Herrscher über die Zeichen und Miterfinder der Semiologie, Bewohner des Panthéons der französischen Post-Fifties-Intellektuellen und der laut Ausstellungsbeiblatt „originellste Kritiker seiner Generation“. Unter dem schicken Emblem R/B betritt man die Ausstellungsräume. Diverser Schnickschnack erlaubt jenen Besuchern, denen das semiologische Universum noch ein fremder Planet ist, durch vorsichtiges Bepusten (barthesianische Neologismen erscheinen auf den Linsen eines Diaprojektors, von denen man, nun ja, den Sprachstaub hinwegbläst) und Anklicken verschiedener Gimmicks erste Schritte in Richtung Strukturalismus zu machen: Was sind Signifikate und Signifikanten, was unterscheidet die Denotation von der Konnotation? Eher für Eingeweihte ist eine Art Gedenkraum geeignet, in dem wie Reliquien unter Glas ein paar Briefe der Cheftheoretiker der Siebziger zur Lektüre ausliegen, Reaktionen auf Barthes’ „S/Z“. Lévi-Strauss gibt ein paar Anregungen; Foucault hat gar keine Einwände – „merci, cher Roland“; Derrida und Althusser begnügen sich mit formelleren Komplimenten.

In einem weniger theorielastigen Raum haben die Ausstellungsmacher ein paar mythische Objekte des Alltags der Fünfziger zusammengetragen. In der Mitte des Raums steht klein und schwarz der Citroën DS, die „Göttin“, der Autotraum der Fünfziger, drumherum sind weniger spektakuläre Items des damaligen Kleinbürgeruniversums gruppiert: Plastikspielzeug, Seifenwerbeplakate, eine Vitrine voller „Guides Bleues“, dem französischen Baedeker, Filmausschnitte aus Boxkämpfen. Über allem schwebt die freundliche und angenehm sonore Stimme des Meisters, raunt gewissermaßen aus einer anderen Epoche in das Ohr des Besuchers, dem die hier versammelten Gegenstände so fremd sein dürften wie griechische Vasen oder Fotos von etruskischer Wandmalerei. Die Fünfzigerjahre können auf gar keinen Fall erst vor fünfzig Jahren stattgefunden haben, und der Chefmythologe antikisiert sich hier auf wundersame Weise: Für einen kurzen Moment transformiert sich Barthes in einen netten, alten Gelehrten, wird wohlwollender Chronist der Fünfziger statt ihr Pathologe. Und hier wäre ein schöner Platz gewesen für Barthes’ berühmt gewordene Aufzählung „J’aime / je n’aime pas“: Frauen in Hosen mochte er nicht, romantische Musik hingegen sehr.

In die Galerie der Malerei regieren schon die Sechziger und somit ähnliche ästhetische Wagnisse wie Frauen in Hosen. Hier sind ein paar Werke von Künstlern ausgestellt, die Barthes geliebt hat: Bernard Réquichot, Louise Bourgeois, Cy Twombly. Nichtgegenständliche Malerei, die sich entweder von vornherein weigert, etwas zu bedeuten, oder die eine Bedeutung vortäuscht, um dann die Erwartung des Betrachters zu enttäuschen, so wie die wunderbaren Briefmalereien von Réquichot, Dankes- und Beleidungungsschreiben, verfasst in einem nichtexistenten Alphabet, das nicht einmal versucht, systematisch zu sein. Barthes mochte diese Bilder, weil in ihnen etwas geschieht, das in der Literatur Utopie bleiben muss, nämlich die Befreiung der Zeichen von ihrem Signifikat; und weil er in ihnen eine andere Utopie verwirklicht sah: eine unmittelbare Malerei, deren Wahrheit allein in ihrer Körperlichkeit, in der materialisierten Lust der Bewegung der malenden Hand liegt.

In der Mitte der Galerie befinden sich, eingemauert in einer Art Iglu, Souvenirs aus dem in den Sechzigern mehrfach von Barthes bereisten Japan: Starre Masken aus vergangenen Jahrhunderten, Stadtfotografie von William Klein, auf denen, wie das ja immer sein muss, wenn Europäer „Asien fotografieren“, undurchdringliche Gesichter vor Neonschriftzeichen zu sehen sind; Reispapierlampen von Ikea, viel Weiß, viel Schlichtheit, Steinchen auf dem Boden, Zen, Haiku und tralala – eine todernst gemeinte Präsentation von Superklischees, was aber (wohl unabsichtlich) ganz gut die Idee illustriert, die Barthes von Japan hatte: das gelobte Land, in dem die Zeichen endlich zu sich selbst kommen, weil sie nicht auf ein endgültiges Signifikat verweisen wollen, sondern sich in ihrer Zeichenhaftigkeit selbst genügen.

Ähnliches passiert auch in der Ausstellung. Je tiefer man in die Räumlichkeiten vordringt, desto offensichtlicher kapituliert deren Konzept vor seiner eigenen Unmöglichkeit. Gelehrsamkeit und Akademie weicht vor irgendwie Unerklärlichem und Kuriosem, vor Lust und Begehren. Das Publikum mäandert ein bisschen planlos und verzaubert durch die Gegend oder hängt ewig lang in den Knautschsesseln rum, die in der Installation innig stehen. In den acht ineinander übergehenden Räumen kann man sich eine Komposition von Andrea Cera anhören, der gern Barthes liest, sich von der Kreisleriana hat inspirieren lassen und die Stimme eines Tenors aufgenommen hat, der Barthes mal kurz Gesangsunterricht gegeben hat. Fast kein Geräusch wechselt sich mit sehr viel Geräusch ab, und das Ganze ist angenehm und unverständlich.

Ein großes Bild der Mutter, das Foto von Henriette Barthes im weißen Kleid am Strand, dient als Raumteiler. Die Besucher betrachten gern das Bild, erwarten aber auch, ihr Spiegelbild im Glas zu sehen, was nicht klappt, weil das Bild auf ein Leintuch gedruckt ist. Henriette Barthes muss enorm viele irritierte Blicke ertragen; sie ist wahrscheinlich sogar das obskurste Objekt der Ausstellung. Sie sieht aber viel zu charmant aus, um den Ärger des Publikums auf sich zu ziehen; genau genommen ist sie so unwiderstehlich, dass man sich sofort in sie verlieben muss. Wer sie mutig streichelt, stellt fest, dass sie aus einem widersprüchlichen Stoff gemacht ist, denn das Tuch ist fein gewebt, fasst sich aber rau an. Das macht sie noch viel verführerischer.

Beim Umkreisen landet man in einer Art dunkler Kammer, in der ein paar Fotos gänzlich unfotohaft-dynamisch ausgestellt sind: Ein unendlich langsames zoom-in und zoom-out auf dünne Jungmännerarme oder Damenschuhe aus einer längst vergangenen Zeit hypnotisieren den Blick des Betrachters. Genauso zerdehnt wird die Zeit in einer Wand mit sechs eingelassenen Fernsehbildschirmen, auf denen Freunde von Barthes frei von jeglicher Zielstrebigkeit über gemeinsame Spaziergänge und Cafébesuche plaudern, während sich unaufhörlich und träge ein Bleistift in einem Anspitzer dreht. Einzig Julia Kristeva doziert planvoll über Sinn und Sensibilität, statt sich in Anekdoten zu verlieren, was ihren Beitrag ziemlich langweilig macht.

Der endgültige Abschied von nachvollziehbarer Bedeutung – und eindeutig ein Highlight der Ausstellung – ist schließlich die Zettelwand, triumphierendes Zeugnis und Vermächtnis eines mittelschwer obsessiven Denkers: eine kleine Auswahl aus den schätzungsweise 12.000 Notizzetteln, die Barthes produziert hat. Schachbrettartig schmücken 1.890 dieser Zettel eine komplette Wand, und die Bedeutung der Stichwörter, Halbsätze oder Zeichen, die auf ihnen zu lesen sind, erschließt sich nicht einmal ansatzweise. (In dem sehr schönen Interview, das Jean-Louis de Rambures 1973 mit Barthes über dessen Schreibgewohnheiten geführt hat, beklagt dieser sich über die Einführung der europäischen Normen, die das Ende des gewohnten Zettelformats mit sich brachte – und die Erkenntnis, nicht hoffnungslos zwanghaft zu sein, da sonst zwecks Vereinheitlichung sämtliche Notizzettel auf Zettel des neuen, ungeliebten Formats hätten übertragen werden müssen, was jedoch nie geschah.) Freimütig präsentiert es sich, das Innenleben des Meisters, und was bleibt? Nur mehr das Unerklärliche. Das ist sehr charmant.

Gründeleien, ob diese Ausstellung jetzt eigentlich eine blöde Verwurstung von Barthes-Geheimnissen durch die museale Maschine ist oder nicht, hat Barthes ja eigentlich selber vorgebeugt. Der Mytho- und Pathologe des Bürgertums ließ sich von ebendiesem Bürgertum becircen und machte den Fehler, einer Einladung zum Diner mit François Mitterrand und hohen Funktionären der Sozialistischen Partei Folge zu leisten. Auf dem Nachhauseweg kam er dann in realiter unter die Räder und brachte danach nicht mehr so richtig Lebensenergie auf. Einen Monat später war er tot.

Angehende Lehrer müssen in Staatsexamen Analysen seiner Texte fabrizieren, die Éditions du Seuil geben die gesammelten Werke heraus, was einer Heiligsprechung gleichkommt. Und während im Inneren der Kunstmaschine, in der riesigen Vorhalle, Georges Pompidou auf die hereinströmenden Massen herunterlächelt, schmückt der Meister der Zeichen selbst die Fassade, was doch wirklich sehr schön ist.

Ausstellung bis 10. März, Katalog 32 €