Wer schrumpft, wird belohnt

Die einen verlangen eine hohe Eigenbeteiligung und die Reduzierung der Kassenleistungen, andere eher Kostensenkungen im bestehenden System

von ULRIKE WINKELMANN

Der Betrieb Weser-Gold im niedersächsischen Rinteln produziert Fruchtsäfte. Seit 1997 hat sich hier die Zahl der Arbeitsunfälle um 60 Prozent, der Krankenstand von 6 auf 4 Prozent verringert. Dazu brauchte es nicht viel: Unter anderem wurden die Fußböden rutschfest gemacht, die Arbeitstische erhöht, ein Fitnessstudio eingerichtet.

Wie kam’s? Weser-Gold nimmt an einem Modellprojekt der AOK Niedersachsen teil. Gemeinsam mit der Krankenkasse hatte Weser-Gold herausgefunden, was die Mitarbeiter krank macht; vor allem war es das viele schwere Heben und das ständige Ausrutschen. Dafür, dass die AOK-versicherten Mitarbeiter – das sind die meisten bei Weser-Gold – nun weniger krank sind, erlässt die Kasse ihnen und dem Betrieb einen ganzen Monatsbeitrag. Weser-Gold spart dadurch 70.000 Euro im Jahr. Zwischen 20 und 30 Firmen nehmen derzeit an dem AOK-Projekt teil, und die Zwischenbilanz – eine Endauswertung wird 2004 vorliegen – sieht ganz gut aus, erklärt AOK-Sprecherin Barbara Marnach. „Auf jeden Fall sinkt der Krankenstand überdurchschnittlich.“ Betriebliche Gesundheitsvorsorge, Hausarztmodelle, Nichtraucherprämien – seitdem das Thema Gesundheitsreform auf der politischen Agenda nach oben gerutscht ist, überschlagen sich Kassen, Ärzte und Experten mit Vorschlägen, wie die Menschen gesünder, die Kassen entlastet und die Lohnnebenkosten verringert werden können.

Während Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) im Februar Eckpunkte zu einer kurzfristigen Entlastung der Krankenkassen vorlegen will, sitzt die so genannte Rürup-Kommission bis Herbst daran, Vorschläge zum langfristigen Umbau aller sozialen Sicherungssysteme auszutüfteln. Was dabei herauskommt, ist unklar, denn erstens sind hier wesentlich mehr Renten- als Gesundheitsexperten versammelt, und zweitens haben die vergangenen Tage bereits gezeigt, wie weit deren Vorstellungen auseinander klaffen. Der Freiburger Volkswirtschaftler Bernd Raffelhüschen plädierte öffentlich für das Schweizer Modell mit hohen Eigenbeteiligungen und starker Schrumpfung der Kassenleistungen; er will die Versicherten stärker belasten. Der Kölner Gesundheitsökonom Karl Lauterbach dagegen verlangte Kostensenkung im bestehenden System; er will also eher die Ärzte und Krankenhäuser zu Rationalisierungen zwingen.

Für die absehbare Zukunft ist daher eher eine schrittweise Reformierung à la Schmidt zu erwarten statt des von manchen verlangten sofortigen Totalumbaus. Die Diskussion um die Bonusmodelle zeigt dabei die Richtung an: Die Kassen sollen ab 2004 die Möglichkeit bekommen, ihren Versicherten Beitragsprozente zu schenken, wenn diese sich dafür gesundheits- beziehungsweise kostenbewusst verhalten.

Neben dem betrieblichen Präventionsmodell bei Weser-Gold und Co tüftelt die AOK derzeit auch daran, Versicherte an Ärzte zu binden und dadurch das in Deutschland so beliebte wilde und sündhaft teure Ärztehopping zu vermeiden. Die Kasse will einen Hausarzttarif einführen: Wer zuerst einen Hausarzt aufsucht statt einen Spezialisten, soll belohnt werden. Um nicht all die Jungen und Gesunden, die sowieso so selten wie möglich zum Arzt gehen, zu verschrecken, erwägt die AOK, Routinebesuche beim Augen- oder Frauenarzt von dieser Regelung auszunehmen. In der Tat aber spekuliert die Kasse darauf, dass junge Verdiener sich die Freiheit, zum Arzt ihrer Wahl zu gehen, etwas kosten lassen, also den nicht ermäßigten Beitrag zahlen.

Mittelfristig, so hofft die AOK, sollen sich Versicherte gegen Beitragsnachlass dazu bewegen lassen, sich bei Ärztenetzen behandeln zu lassen, die mit der AOK Sondertarife aushandeln. Dazu müssten die Kassenärztlichen Vereinigungen gesetzlich entmachtet werden, die bislang Einzelverträge verhindern.

Zum Unwillen der Gesundheitsministerin, die sich alle gut verkäuflichen Veränderungen natürlich gerne selbst an die Brust heften möchte, ist zum Jahreswechsel die Techniker Krankenkasse mit einem ganz eigenen Bonusmodell vorgeprescht: Seit dem 1. Januar überweist die TK ihren Versicherten, die mehr als 3.825 Euro monatlich verdienen, 240 Euro jährlich. Die müssen dafür Behandlungskosten von bis zu 300 Euro im Jahr selbst zahlen, tragen also ein finanzielles Risiko von 60 Euro. De facto ist dies die Einführung eines so genannten Selbstbehalts, wie sie etwa von der Union gerne gefordert wird und von SPD-nahen Experten wie Karl Lauterbach als „Gefahr fürs Solidarsystem“ gebrandmarkt wird. Andere Kritiker befürchten außerdem, dass jeder Anreiz, nicht zum Arzt zu gehen, dazu führt, dass Krankheiten verschleppt werden.

Die TK sah sich zu dieser Maßnahme gezwungen, denn sie ist die Kasse, deren Mitglieder – eher jung, eher gut verdienend – sich zu zehntausenden in die privaten Versicherungen absetzen. „Und wir meinen: Lieber elfeinhalb Monatsbeiträge für das Solidarsystem als zwölf außerhalb“, erklärt TK-Sprecherin Dorothee Meusch. „Solidarität ist gut und schön, aber nur unter Kranken und Armen funktioniert sie nicht. Es braucht auch ein paar Reiche und Gesunde.“

Ein anderes Bonusmodell ist mittlerweile eher wieder in Misskredit geraten. Das Vorhaben der Barmer Ersatzkasse, Nichtraucher zu belohnen, wurde mit dem schlichten Hinweis der Ärzte aus der Diskussion verabschiedet, dass sie keine Gesundheitspolizei seien.