Klassenkampf von oben

„Generationengerechtigkeit“ heißt das neue Schlagwort. Doch es führt in die Irre: Es gibt keinen Kampf zwischen den Generationen – sondern zwischen Reich und Arm

Wohlhabende Eltern sorgen schondafür, dass auch ihre Kinder wohlhabend bleiben

Niemand wird hungern. Ganz bestimmt nicht. Diese Versicherung mag zwar bizarr klingen, aber sie scheint nötig zu sein. Denn sobald Deutschland über seine Zukunft debattiert, wird es ein wenig hysterisch. Besonders die fernen Zeiten ab 2030 machen Angst, wenn ganz viele Alte ganz wenigen Jungen gegenüberstehen.

Als Alltagswissen gilt inzwischen, dass das staatliche Rentensystem zusammenklappen wird und dass in Altersarmut versinkt, wer nicht schon jetzt privat vorsorgt. Aber auch die Besitzer von Lebensversicherungspolicen sind nicht beruhigt. Sie stellen sich die nahe liegende Frage: Wer soll meinen Rollstuhl schieben in einer Welt, die fast nur noch von greisen Rollstuhlfahrern bewohnt wird?

Allgemein wird vermutet, dass die wenigen Jungen zur Mammut-Pflege bestimmt keine Lust haben. Stattdessen wird ein Generationenkonflikt vorhergesehen – und um ihn zu vermeiden, ist ein neues Wort erfunden worden: „Generationengerechtigkeit“.

Norbert Blüm hat den Begriff für seine Rentenreform benutzt, 1998 hat ihn die FDP für sich entdeckt. Die Liberalen können zufrieden sein mit ihrem Marketingerfolg: Inzwischen sind alle Parteien bemüht, als die Vorkämpfer der Generationengerechtigkeit zu erscheinen. Und jüngst wurde die neu entdeckte Generationengerechtigkeit noch weiter aufgewertet: Sie ist nun sogar Anliegen eines Expertengremiums – der Rürup-Kommission, die ihre Ergebnisse im Herbst 2003 vortragen wird.

Aber stimmt das überhaupt: Droht ein Generationenkonflikt, den man institutionell und weit vorausschauend vermeiden muss? Kanzler Schröder hat kürzlich eine Erfahrung gemacht, die dagegen spricht. Trotz des Widerstands der jüngeren Abgeordneten von Rot-Grün setzte er durch, dass der Beitragssatz zur Rentenversicherung von 19,1 auf aktuell 19,5 Prozent steigt. Denn in der Rentenkasse klaffte ein Loch und der Kanzler konnte sich nicht vorstellen, dass die Alten freiwillig auf einen Teil ihrer Zuwendungen verzichten würden. Doch sein berühmt-berüchtigtes „Bauchgefühl“ hat Schröder getrogen; Umfragen ergaben hinterher, dass auch viele Rentner bereit gewesen wären, weniger zu erhalten, um die jüngeren Beitragszahler zu schonen. Statt Generationenkonflikt zeigte sich da Generationensolidarität. Generationengerechtigkeit muss man anscheinend gar nicht fordern; dafür existiert schon ein Gespür.

Schröders nachträgliche Lernerfahrung ist kein Einzelfall, sondern lässt sich empirisch erhärten. Es gibt den Generationenkonflikt nicht. Die Familienforschung hat herausgefunden, dass Eltern und Kinder lebenslang zusammenbleiben. Jedenfalls die meisten. Konkret: Knapp ein Drittel der Eltern leben mit mindestens einem ihrer erwachsenen Kinder in einer Wohnung, 40 Prozent wohnen in einem Haus. 90 Prozent aller Eltern berichten von einer engen oder sehr engen emotionalen Nähe mit mindestens einem erwachsenen Kind. 85 Prozent sehen oder sprechen sich mindestens einmal in der Woche, 40 Prozent haben sogar täglichen Kontakt, auch wenn sie nicht zusammenwohnen. Der Sozialforscher Marc Szydlik bringt es auf die Formel: „Lebenslange Solidarität auf kurze Distanz.“

Natürlich wird es zu einer Belastung, wenn weniger Kinder künftig nicht nur ihre Eltern, sondern wahrscheinlich auch noch ihre alten Tanten und Onkel betreuen müssen, die selbst keine Nachkommen haben. Aber: Das ist ein organisatorisches Problem, kein finanzielles. Deutschland ist ein reiches Land – und das wird es bleiben.

Genaue Zahlen gibt es zwar nicht, wie der Bevölkerungsschwund das Wirtschaftswachstum beeinflussen wird. „Schwer zu schätzen“, da sind sich alle Forschungsinstitute einig. Doch die schlimmste bekannte Annahme – sie stammt von der Universität Cardiff in Wales – sieht voraus, dass Europa und also auch Deutschland mit „50 Jahren Stagnation“ zu rechnen haben. Selbst so viel Pessimismus kann nicht schrecken. Denn es hieße: Es geht uns weiter so gut wie heute.

Die meisten Forscher sind jedoch viel optimistischer. Schließlich hat das Wachstum vor allem mit der technologischen Entwicklung zu tun; neue Produkte und Fertigungsmethoden haben schon bisher dafür gesorgt, dass das Volksvermögen im Langzeitdurchschnitt um jährlich ein bis zwei Prozent zunimmt. Unser Wohlstand wird sich wahrscheinlich nicht wandeln – nur das Konsumverhalten. Die Älteren von uns werden vermutlich weniger in einen Kurztripp nach Mallorca investieren und dafür mehr für die ambulante Pflege aufwenden – die stärker maschinengestützt sein dürfte als heute, um das knappe Pflegepersonal zu entlasten und optimal zu nutzen.

Doch obwohl die Zukunft für alle rosig sein könnte, wird sie für einige bitter. Denn der Reichtum verteilt sich nicht gleichmäßig. In dreißig Jahren werden wir wahrscheinlich erleben, dass sich viele alles leisten können – private Pflege ebenso wie Luxusreisen bis ins höchste Alter, dazu ein hübsches Einfamilienhaus und Personal, das gelegentlich kommt und putzt. Der Rest hingegen wird schon froh sein, wenn er sich die nötigste Unterstützung sichern kann. Doch das ist kein Kampf zwischen den Generationen, sondern ein Kampf innerhalb einer Generation, und er läuft schon heute.

Generationengerechtigkeit muss man gar nicht fordern; dafür existiert schon ein Gespür

Wie dieser Verteilungskampf funktioniert und wie stark gleichzeitig der Familienzusammenhalt ist, das zeigt etwa der Bildungssektor. Die zweite Untersuchungsrunde von Pisa hat es kürzlich angeprangert: In Deutschland kostet der Kindergarten Gebühren, doch die Universität ist umsonst. In die Grundschulen wird kaum investiert, aber in die gymnasialen Oberstufen fließen reichlich Mittel. Das Ergebnis ist bekannt: Kinder aus den Unterschichten scheitern meist an der Schule, weil sie in den entscheidenden Phasen nicht ausreichend gefördert werden. Doch sobald sie aussortiert sind, zeigt sich der Staat plötzlich großzügig bei der Bildung. Die Eliten alimentieren sich selbst. Oder um es mit Generationsbegriffen auszudrücken: Wohlhabende Eltern sorgen dafür, dass auch ihre Kinder wohlhabend bleiben und keine allzu starke Konkurrenz fürchten müssen. So schlimm kann es also nicht sein mit der Angst, dass Deutschland demnächst die Facharbeiter ausgehen. Die Wohlhabenden wollen sich ein Proletariat leisten, trotz Bevölkerungsschwund.

Die Solidargemeinschaft ist nicht im Jahre 2030 gefährdet, weil Alt gegen Jung kämpft, sie löst sich jetzt schon auf. Und nach allem, was man bisher aus der Rürup-Kommission hört, wird sie nicht dazu beitragen, die sozialen Unterschiede in Deutschland zu verkleinern. Im Gegenteil: Private Vorsorge begünstigt jene, die genug haben, um vorzusorgen. Aber Klassenkampf ist ja ein so unappetitliches Wort, und außerdem ist es ein Klassenkampf von oben, das ist auch nicht vorgesehen. Also reden wir uns lieber einen Krieg der Generationen ein.

ULRIKE HERRMANN