Mit Shakira und Konfuzius

Ein Blick in den „Barrio Chino“ Limas: In der Hauptstadt Perus lebt die größte chinesische Community Lateinamerikas. Sie hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich, zählt aber heute zur Mittelschicht. Die Geschichte einer – fast – perfekten Integration

Wer ins „gelobte Land“ wollte, brauchte einen „Käufer“, dem man 5 Jahre verpflichtet war

von AIMÉE TORRE BRONS

Auf der Speisekarte stehen so exotische Gerichte wie Jakau Siumay oder Pac Chan Pow. Auf dem Teller liegen Sojasprossen neben Hähnchengeschnetzeltem und Reis. Alles klar: Wir sind in einem China-Restaurant. Dann aber zieht der Duft von Chili, Knoblauch und Cumin in die Nase. Tamales, die sich als mit Reis gefüllte Lotusblätter entpuppen, werden serviert. Dieser Laden betreibt eine seltsame, aber äußerst schmackhafte babylonische Küche. Am Nebentisch klappern die Essstäbchen, im Fernseher singt Shakira auf Spanisch, und die Rechnung wird in Soles bezahlt.

Willkommen im „Salon Capón“, einem der über 2.000 chinesisch-peruanischen Restaurants im „Barrio Chino“, dem Chinesenviertel Limas. Nur wenige Straßenzüge vom Präsidentenpalast entfernt im historischen Zentrum mit seinen Kolonialbauten stößt die Calle Capón auf die Calle Paruro. Beide Straßen bilden die peruanische Variante eines Little China, das aus chinesischen wie peruanischen Ingredienzen eine hybride Kultur entwickelt hat, die heute ebenso selbstverständlich zum Alltag des Andenstaates gehört wie der aus Spanien importierte Katholizismus in der Kirche, der Choclo, der Andenmais, auf dem Teller und die Inca-Cola im Glas.

Das „Land der tausend Gesichter“, wie der Schriftsteller Mario Vargas Llosa seine multiethnische Heimat einmal bezeichnete, zeigt in der peruanischen Hauptstadt deutlich ihr chinesisches Antlitz. Da hängen Peking-Enten neben roten Lampions im Schaufenster, Konfuzius-Figuren grüßen aus dicht gefüllten Asia-Läden, und gleich nebenan liegt der Zentrale Markt, wo im Dezember der Weihnachtsschmuckverkauf tobt. Auch er fest in chinesischer Hand.

Kaum einer der zahlreichen Touristen weiß, dass in Peru die größte Comunity chinesischer Einwanderer Lateinamerikas lebt. Gekommen sind sie vor über 150 Jahren als Gastarbeiter, wenige Jahre nachdem Peru seine kolonialen Fesseln 1821 abgelegt hatte. Man benötigte dringend Arbeitskräfte für den Aufbau eines unabhängigen modernen Staates. Über eine Million Quadratkilometer Fläche warteten darauf, kultiviert, technologisiert, modernisiert zu werden. Der Versuch, europäische Einwanderer zu werben, schlug fehl: zu teuer. Und so richtete man den Blick auf China, wo Armut und Opiumkrieg viele Menschen aus dem Land und in die Emigration trieb.

1849 erließ die peruanische Regierung ein Einwanderungsgesetz, das vor allem asiatische Einwanderer ins Land locken sollte. Dieses Gesetz versprach jedem, der einen Immigranten im Alter zwischen 10 und 50 Jahren nach Peru brachte, eine Prämie von 30 Pesos. Der Schlepperhandel blühte. Und so wurden die gerade Dekolonisierten zu Kolonialisten im eigenen Land, denn die aus China stammenden Gastarbeiter wurden wie Sklaven behandelt: Wer ins „gelobte Land“ wollte, brauchte einen „Käufer“. Dem musste man sich mindestens auf fünf Jahre als Lohnarbeiter verpflichten, bevor man die „Freiheit“ in der neuen Heimat erhielt.

Im Oktober 1849 war es so weit: Das erste Schiff mit 75 chinesischen Einwanderern landete in der Hafenstadt Callao. Ihnen sollten in den darauf folgenden 25 Jahren weitere 100.000 folgen. Bis heute hält der Einwanderungsstrom an. Vor allem in der Landwirtschaft, dem Eisenbahnbau und dem Handel haben die ersten chinesischer Einwanderer gearbeitet, und sie haben dem Land zu einem enormen Entwicklungssprung verholfen. Allein in der Zeit von 1871 bis 1877 stieg die Zuckerproduktion von 4.500 auf jährlich 63.370 Tonnen. Überall dort, wo die „Chinos“ arbeiteten, gab es erstaunliche Wachstumsraten.

Wenn heute Peru-Reisende mit dem Zug die Anden überqueren und an der höchsten Eisenbahnstation der Welt La Oroya mit der Höhenkrankheit kämpfen, ahnt kaum einer von ihnen, dass über 5.000 Chinesen unter härtesten Bedingungen in der eiskalten dünnen Luft der Hochanden an dieser Strecke mitgebaut haben. Quer durchs Land, von der Küste über die Kordilleren bis zum Titicacasee, reichen die Schienen.

Den Chinesen ist es auch zu verdanken, dass aus dem Heimatland der Kartoffel eine Nation von Reis-Liebhabern geworden ist. Reis zählt heute zu den Hauptnahrungsmitteln Perus. Überhaupt sind die Küchen beider Kulturen eine der fruchtbarsten Verbindungen eingegangen. Nachdem bereits andine, europäische und kreolische Einflüsse die regionale Küche prägten, ist sie durch den chinesischen Einfluss vollends geadelt worden. Unter Kennern gilt die peruanische Esskultur als eine der besten der Welt.

Zwischen 1 und 2,5 Millionen Chinesen bzw. Peruaner chinesischer Abstammung leben heute in Peru. So genau weiß das niemand: Zu groß war die Vermischung mit der einheimischen Bevölkerung, mit Indigenen, Schwarzen und Mestizen. Ohne sich der „neuen Welt“ zu verweigern, haben die chinesischen Einwanderer ihre Gewohnheiten und Werte bewahrt. Entstanden ist eine Generation von Peruanern, die Weihnachten und das chinesische Neujahrsfest feiert, Salsa tanzt und Tai Chi praktiziert, spanische Vor- und chinesische Nachnamen hat und bei der letzen Miss-Wahl für die peruanische Kandidatin mitgefiebert hat.

Die „Chinos“ gelten als äußerst arbeitsam und geschäftstüchtig. So haben sie im katholischen Peru den Sonntagsverkauf eingeführt. Ihr Wort gilt, alles andere wäre ein Gesichtsverlust. Diese Tugenden rufen Bewunderung, manchmal aber auch Befremden und Vorurteilen hervor: „Chino cochino“, dreckiger Chinese, ist nur eine der Beleidigungen – die man allerdings selten hört, denn die Chinos gehören kaum der armen, sondern eher der gehobenen Mittel- bis Oberklasse an. Das ist in Peru ein guter Schutz gegen Diskriminierung. Als Geschäftsleute, Politiker, Ingenieure, Ärzte, Rechtsanwälte sind sie heute vollständig in die peruanische Gesellschaft integriert.

Einer dieser modernen Chinos ist Eduardo Tang, jung, erfolgreich und als Art Director einer renommierten Grafikagentur Limas im kreativen Bereich tätig. Im Schoß der chinesischen Comunity Limas aufgewachen, haben ihn zeit seines Lebens chinesische Freundschaften und Werte begleitet. „Ich bin auf eine chinesische Schule gegangen. Dort und von meinen Eltern wurde mir unser chinesisches Erbe weitergegeben. Dazu gehörten Werte wie die Alten zu ehren und an den chinesischen Feiern und Ritualen teilzunehmen.“ Zur dritten Generation chinesischer Einwanderer gehörend, kennt Eduardo Tang die ursprüngliche Kultur Chinas nur aus den Erzählungen seiner Mutter, deren Eltern aus Kanton einwanderten. Zusammen mit seiner ebenfalls chinesischstämmigen Frau Carmen Lu führt er dennoch die Tradition weiter. Er möchte, dass seine beiden Söhne mit der lebendigen Erinnerung an ihre Wurzeln aufwachsen.

Seine Eltern, beide in Peru geborene Nachfahren chinesischer Einwanderer, haben ihre Kinder stets gemahnt: „Wenn ihr nicht die chinesischen Werte lebt, werden euch nur die Gesichtszüge bleiben und nichts weiter“. Ein Tusan, ein Kind chinesischer Einwanderer zu sein, bedeutet eben auch, immer besser als die anderen sein zu müssen, allein wegen der Familienehre. Nicht von ungefähr zählt auch seine Schwester Mercedes zu den erfolgreichsten Managerinnen Limas.

Noch heute trifft sich die gesamte Familie regelmäßig samstags beim traditionellen chinesischen Frühstück im Barrio Chino. Befragt, was ihm sein chinesisches Erbe bedeute, meint Eduardo Tang: „Immer habe ich mich gefragt, ob ich nun ein in Peru geborener Chinese oder ein Peruaner aus China bin. Praktisch definiere ich mich als Peruaner chinesischer Rasse. Peruaner, weil ich in Peru geboren bin, Chinese, wegen meiner Herkunft. Und gefühlsmäßig? Wenn mein Blut chinesisch ist, dann ist das Herz peruanisch. Dies ist das Land, das meine Großeltern erwählt haben, und dies ist das Land, wo meine Generation ihre Früchte gedeihen lässt.“