Passionen auf dem Papier

Die letzten Helden der westlichen Welt: Das Musiktheater hat die Künstlerbiografie als Opernstoff entdeckt. Ein Überblick über aktuelle Inszenierungen, von Berlin über Bielefeld bis Amsterdam

Gleich drei Opern widmen sich dem Renaissancefürsten Gesualdo von Venosa

von FRIEDER REININGHAUS

Aus dem Land der Oper dringen derzeit vor allem schlechte Nachrichten, bedingt durch das Gezerre um Sparvorgaben und effizientere Strukturen. Freilich tut sich auch bemerkenswert Neues auf – allerdings an weniger prominenten Orten.

Zum einen dominiert mancherorts eine Neuverwertung sehr alter Textvorlagen im Kontext postmoderner Tonkünste; andererseits wurde ein Hang zu leichter Kost wieder auffällig. Und drittens scheint es, als würde die Figur des Künstlers seit Jahren zunehmend zum neuen Helden des Musiktheaters erhoben. Zurückzuführen dürfte das sein sowohl auf Adorno, welcher der Kunst und den Künstlern einst die Funktion zuschrieb, einzig resistent sein zu können im „ehernen Gehäuse“ der real existierenden Verhältnisse, als auch auf Spätfolgen der postmodernen französischen Philosophie – ebenso wie auf die allgegenwärtige Popularisierung von Literaturkritik und die Rentabilitätsbestrebungen der Museen: Das alles hat entscheidend dazu beigetragen, dass sich ausgewählte Kunstschaffende zu den letzten Helden der freien Welt erheben ließen, zumindest aber zu Helden der modernen Oper: Dichter wie Bulgakow, Majakowski, Pasternak, Celan, Sylvia Plath, Peter Weiss, Solschenizyn. Musiker wie Gesualdo (wenigstens dreimal), Händel, Mozart, Verdi, Tschaikowsky, Schostakowitsch. Bildende Künstler wie Vincent van Gogh (fünfmal!), Vermeer, Giacometti, Dalí, Francis Bacon und Josef Beuys.

In diese Reihe kehrte jüngst auch der Maler Goya ein. In Fortschreibung eines vor zwei Jahren in Santiago de Compostela begonnenen Projekts präsentierte Michael Nyman im Staatstheater Karlsruhe die Kammeroper „Facing Goya“ (vgl. taz v. 23. 10.): Der Meister soll aus Schädelresten geklont werden, aber er legt sich gegen die Absichten der heutigen „Humanwissenschaften“ quer – in eine neo-neobarocke Tonspur: redundant und entrückend, aufreizend und beschönigend. Musik, die eigentlich unter die neue Verpackungsverordnung fallen müsste.

Nicht minder „zeitgenössisch“ durch einen noch stärkeren Trend zum Boulevardesken erschien da „The Bird Garden“ von Quentin Thomas in Düsseldorf: sieben Frauen auf Selbsterfahrungs- und Emanzipations-Trip im Ambiente eines aufgelassenen umbrischen Klosters (die Dekoration wurde von der Librettistin Polly Hope – in naiver Manier – selbst gemalt). Im Zentrum des Septetts steht natürlich eine Künstlerin. Der englische Organist und Kirchenmusikverlagslektor Thomas schrieb dazu aus Strawinsky, Puccini, Britten, Philip Glass, Jazz und Gospel eine handliche Musiknummernfolge zusammen: populistischer Frühlingsquark, im Geschmack aber leicht ranzig.

Bekanntlich fängt die Operngeschichte mit Orpheo an, dem ersten namentlich bekannten Künstler der Menschheit. Ihm wurde in Bielefeld, ausgerechnet, ein dreigestaffeltes Projekt gewidmet, mit dem das Musiktheater seine Events tief in die Stadt pflanzte: Iris ter Schiphorst entwarf mit interessanter neuer Kammermusik im Namen der Eurydike am Alten Markt ein Gegenmodell zur männlich dominierten Rezeptionsgeschichte des Orpheus. Manos Tsangaris nutzte für seine Orpheus-Zwischenspiele einen Bahnsteig und einen Streckenabschnitt der Stadtbahn: Sightseeing und Ohrgrusel im modernen Tartarus. Und unter vielerlei Anspielungen auf die Mythengeschichte installierte Georg Nussbaumer seine von Kulturmüll gespeiste Installation „orpheusarchipel“ im Bunker.

Eine glückliche Balance zwischen historischen und zeitgenössischen Dimensionen traf die „Ballata“ von Luca Francesconi im Théâtre Monnaie in Brüssel. Es handelte sich da um die weit ausholende und kräftig postmodern zupackende musikalische Lebensreise eines Seemanns mit Textelementen des britischen Romantikers Samuel Taylor Coleridge. Auch das stellte eine ambitionierte Kunstreise dar: halb die reale Schilderung einer Ausfahrt in südliche Breiten, halb Albtraum und philosophischer Exkurs. Auch hier inszenierte Achim Freyer – und dieses Mal betont er die narrativen Momente in den unzusammenhängenden, von Vorgriff und Rückblenden durchschossenen Reiseerinnerungen und Traumbildern.

Eine der drei neuen Arbeiten, die Gesualdo – den komponierenden Fürsten von Venosa – auf die Musiktheaterbühne holten, wurde im Herbst auch in Berlin präsentiert.

Die Zeitgenössische Oper zeigte im Hebbel Theater Salvatore Sciarrinos „Luci mie traditrici“ oder auch „Die tödliche Blume“: Luftig, anspielungsreich und klangschön geriet diese Erinnerung an den Renaissance-Fürsten Gesualdo, der aus Eifersucht seine Frau und deren Liebhaber abstechen ließ und dunkle Madrigale schrieb.

Rüdiger Bohn brachte dank der vorzüglich singenden Protagonisten de la Paz Zaens, Márta Rózsa und David Corshadier eine intensive Aufführung des konservativ ausholenden Werks zu Wege. Sabrina Hölzers gut gemeinte Inszenierung stellte, wie die vorangegangenen, die Szene zugunsten der Musik ruhig und erreichte – gemessen an Roland Aeschlimanns Produktion am Théâtre de la Monnaie – nicht annähernd jene optische Schärfe und szenische Intensität, die mit diesem Werk möglich wird.

Im Jahr 2000 bekam der in Amerika lebende Komponist Tan Dun für die Musik zum Film „Crouching Tiger, Hiddem Dragon“ einen Oscar, lieferte eine weltweit von 55 Radiostationen übertragene „menschheitsverbindende“ Millenniums-Musik und für die groß angelegten Bach-Gedenkfeiern in Stuttgart eine „Water-Passion“, eine Passionsmusik nach Matthäus, unter vielfältiger akustischer und symbolischer Verwendung von kühlem Wasser. Nun hat er sich dem warmen Wasser zugewandt: Sein Werk „Tea“ (kürzlich uraufgeführt in Tokio) kam als europäische Erstaufführung unter seiner Leitung in Het Muziektheater nach Amsterdam.

Kreisend um Fragen der Teezeremonie geht es bei diesem Stück mit einer politischen Episode im Verhältnis von China und Japan im 9. Jahrhundert: um den japanischen Prinzen Seikyo, der an den chinesischen Hof kommt und dort um Prinzessin Lan wirbt.

Obwohl deren Bruder heftigen Widerstand entgegensetzt, gibt der Kaiser von China der Verbindung ihren Segen, weil Seikyo so trefflich Teelieder zu singen versteht. Der Prinz, der wiederum nicht zufällig in erster Linie Künstler ist, und die Prinzessin, deren sich anbahnende Liebe auf die in der Passionsmusik erprobte Weise von Geräuschen des Wassers unterstützt wurde, brechen in den Süden auf und suchen mit dem „Book of Tea“ einen Schatz alter Weisheiten – eine tödlich endende Reise.

Das Tönen des Papiers begleitet die Augenblicke der erfüllten Liebe, in die das Teeritual übergeht: Große Papierbahnen werden getrommelt und zum Rappeln und Rauschen gebracht; die Musiker machen kräftig frischen Wind, indem sie ihre Noten unisono heftig hin- und herblättern. Tan Dun präsentiert ein Gesamtkunstwerk, in das vom poetischen Wort bis zum dumpfen Klopfen der Steine und zum hellsten Licht und höchsten Sopranton alles wohldosiert eingeschrieben wurde.

Tan Duns „Tea“ will demonstrativ Brücken zwischen unterschiedlichen Kulturen schlagen. Da wird vermengt und amalgamiert, und auf teilweise betörend wohlklingende Weise tritt somit eine neue Weltmusik auf den Plan, die weithin auch von den Erfahrungen westlicher, auf John Cage sich beziehender Avantgarde geprägt ist und passagenweise sogar die Schreckgesten der mitteleuropäischen Neoexpressionisten bedient.

Tan Dun schreibt mit strikter Ökonomie der Mittel eine intelligente Musik, die eine neue Unmittelbarkeit konstituiert. In Besinnung auf sehr alte Rituale.