„Das Fleisch ist deins“

Untersuchungen zeigen: In 20 Prozent aller türkischen Haushalte in Deutschland wird mit Gewalt erzogen. Dieser autoritäre Erziehungsstil ist in einer individualisierten Gesellschaft unfunktional und bringt Probleme nicht nur in den Schulen mit sich

Interview EDITH KRESTA
und ALKE WIERTH

taz: Sie arbeiten an einer Studie über Erziehungsmethoden türkischer Familien im Auftrag des Bundeserziehungsministeriums. Was soll Ihre Arbeit bringen?

Haci Halil Uslucan: Hintergrund sind die Bemühungen der Bundesregierung, gewaltfreie Erziehung durchzusetzen, auch für Migranten. Bisherige Befunde haben gezeigt, dass Gewalt in der Erziehung in Familien türkischer Herkunft häufiger vorkommt als in deutschen. Laut Untersuchungen herrscht in nahezu 20 Prozent aller türkischen Haushalte Gewalt vor. Das heißt, jedes fünfte Kind wird geschlagen!

Ist das einfach Teil des türkischen Erziehungsstils, oder entsteht Gewalt unter dem Druck der Migration?

Da kommen zwei Aspekte zusammen. Wenn man den Kontext von Erziehungsstilen betrachtet, zeigt sich, dass in traditionalen, in agrarischen, kollektivistischen Gesellschaften, also in solchen, in denen die Gruppe mehr zählt als das Individuum, Erziehung zum Gehorsam, auch gewaltförmige Erziehung, durchaus funktional ist. Sie macht aber keinen Sinn in fortgeschrittenen Gesellschaften, in denen Individualität ein viel stärkerer Aspekt ist, in denen Selbstständigkeit, eigene Laufbahnplanung wichtiger sind. Gleichzeitig zeigt sich, dass die Weitergabe von Werten von Eltern an Kinder bei Migranten in Deutschland viel stärker ist als bei Türken in der Türkei. Auch das macht Sinn, dass Familien in der Fremde noch enger zusammenrücken.

Was wäre denn in dieser Gesellschaft ein funktionaler Erziehungsstil?

Die Erziehungsstilforschung hat gezeigt, dass eine autoritative Erziehung derzeit für Kinder und Jugendliche die besten Entwicklungsmöglichkeiten setzt. Autoritative Erziehung unterhält einerseits eine emotionale Wärme zum Kind, unterstützt es, gibt aber auch klare Regeln und Normen vor. Auch schulische Leistungstests haben gezeigt, dass Kinder, die so erzogen werden, die besten Entwicklungsvoraussetzungen haben. Autoritäre, also strafende Erziehung, die ja auch das Selbstwertgefühl des Kindes eher verkümmern lässt, indem sie durch die Autoritätshaltung signalisiert: „Du schaffst es nicht allein, dir Regeln zu setzen“, wirkt sich ungünstig aus.

Warum hält sich dieser unfunktionale Erziehungsstil dennoch?

Nach entwicklungspsychologischen Forschungen sind Merkmale, die zu einer unfunktionalen Erziehung führen, z. B. geringe Bildung der Eltern, junges Alter, Armut und auch selbst erfahrene Gewalt, und zwar unabhängig davon, ob es sich um türkische oder andere Eltern handelt. Das sind aber Risikokonstellationen, die gerade bei türkischen Müttern oft zutreffen. Viele sind selbst noch fast Teenager, selbst noch emotional bedürftig, müssen aber schon für zwei oder drei Kinder sorgen. Und was die Frage der Bildung betrifft: Viele Mütter, die aus der Türkei hierher kommen, haben nur eine Grundschulausbildung. Sie sind bildungsmäßig nicht in der Lage, ihre Kinder hier in schulischen Belangen zu unterstützen, auch wenn sie emotional gute Mütter sein können.

Welche Rolle spielt die soziale Situation?

Die Arbeitslosigkeit unter Ausländern ist mit 20 Prozent doppelt so hoch wie bei Deutschen. Sie sind also stärker von Armut betroffen. Und was die eigene Erziehung betrifft: Gewalt in der Erziehung ist in der Türkei noch viel stärker gang und gäbe als hier. Und wenn Eltern keine bewussten erzieherischen Mittel haben, greifen sie immer auf die Erziehungsstile zurück, die sie selbst genossen haben.

Spätestens in der Schule knallen dann diese Erziehungsstile aufeinander.

Es gibt eine stehende Wendung in der Türkei, wenn Väter ihre Kinder beim Lehrer abliefern, die heißt: „Eti senin, kemigi benim“ – das Fleisch ist deins, die Knochen gehören mir. Die väterliche Gewalt wird damit dem Lehrer anvertraut. Und von türkischen Vätern ist oft zu hören, die Schule hier sei viel zu lasch, die Lehrer könnten sich nicht durchsetzen. Das ist ein Eindruck, den gerade Ältere haben, die selbst noch die Rolle eines Lehrers als Autoritätsperson verinnerlicht haben und sich nicht vorstellen können, dass Schüler und Lehrer in Kooperation, im Dialog lernen können.

Diese verschiedenen Erziehungsvorstellungen führen doch auch für die Kinder zu Problemen?

Sie spüren viel stärker deren Unvereinbarkeit, dass Erziehung, wie ihre Eltern sie genossen haben und wie sie sie den Kindern weitergeben, für sie nicht mehr so lebbar ist. Das ist eine Inkonsistenz, die Autorität untergräbt, die betroffene Kinder und Jugendliche so verunsichert, dass sie kein Kontrollbewusstsein entwickeln können, dass sie nicht wissen: Auf diese Handlung folgt jenes, auf diese Aktion jene Reaktion.

Und das führt dann zu Entgrenzung, mit der Lehrer in manchen Schulen zu kämpfen haben, vor allen Dingen bei türkischen Jungen, die anscheinend gar keine Grenzen mehr wahrnehmen?

Ich glaube, dahinter steckt auch ein bestimmtes Bild von Männlichkeit, das sich nicht viel geändert hat in den vergangenen Jahren. Das ist wie ein Bollwerk, das mit am schwersten erschütterbar ist. Dass Männer keine Gefühle zeigen, dass sie sich nur über Härte, über Aggressivität durchsetzen können, dieses Bild vom Macho besteht noch. Aus der Perspektive der Jugendlichen ist es so, dass sie unter einer hohen Anspannung stehen, auch oft ein fragiles Selbstbild haben. Sie neigen ganz schnell zu Gewalt, weil sie sozusagen kognitiv aufweichen würden, wenn sie sagen würden: Ich biete Verhandlungen an, lass uns darüber reden“, oder wenn sie zweckrational handeln und erkennen würden: „Mensch, von dem krieg ich eher Kloppe, lieber jetzt die Klappe nicht so weit aufreißen.“ Von türkischen wie auch von vielen arabischen Jugendlichen wird dieses Zurückziehen, dieses zweckrationale Kalkül, als unmännlich empfunden.

Herausforderung anzunehmen ist ein Zeichen der Stärke, der Männlichkeit. Dieses Bild wird möglicherweise auch von Vätern noch verstärkt. Eltern sind selbst verunsichert über dieses Aufweichen der Geschlechterseparation, die sie aus ihrer eigenen Herkunftskultur kennen. Wo dieses Bild im Wanken ist, greifen sie zu künstlichen Trennlinien, um die Welt zu ordnen, um die Komplexität der Welt zu reduzieren.

Dann ist es also auch ein Generationskonflikt?

Ein Generations- und Kulturkonflikt zugleich. Auch deutsche Jugendliche haben ja in der Entwicklung Schwierigkeiten – von der Individualisierung sind alle betroffen. Und die hat einerseits negative Aspekte, dass das Leben undurchschaubarer wird, aber auch positive Aspekte, nämlich dass wir vor einer Vielfalt von Optionen stehen, viel freier sind als unsere Vorgängergeneration. Türkische Jugendliche haben die negativen Folgen der Individualisierung selbst zu tragen, müssen aber deren positive Folgen gegen ihre Eltern durchsetzen. Da überlagert sich ein Generationskonflikt, der alle betrifft, mit einem Kulturkonflikt. Das ist auch ein Grund, warum Integration nicht im gewünschten Tempo abläuft. Integrieren sich türkische Jugendliche zu schnell, bedeutet das für die Eltern immer eine Entfremdung von der eigenen Kultur. Dieser Prozess kann nicht reibungslos ablaufen, es ist immer an Verlusterfahrung gekoppelt.

Wie sollen die Lehrer reagieren? Müssen sie autoritärer werden?

Das wäre ein Rückfall, zu sagen, die muss man hart am Ohr anpacken. Lässt man sie andererseits einfach gewähren und versucht nur einen Dialog, offenbart man in den Augen des anderen Schwäche. Mehr Autorität wäre angebracht im Sinne von Sachautorität, dass also Lehrer diejenigen sind, die kompetent und erfahren sind. Der Lehrer hat ja in der türkischen Kultur nicht nur die Rolle der starken Hand, der Verlängerung der Vaterfigur. Lehrerpersönlichkeit ist extrem positiv assoziiert, der Lehrer erzieht auch, er ist fast weise. Dass deutsche Lehrer nicht erziehen, sondern eben nur Bildung vermitteln, das verunsichert viele türkische Eltern.

Wie kann denn die deutsche Gesellschaft damit umgehen?

Eine Möglichkeit ist, dass man türkische Eltern im Wissen um Erziehung, auch um moderne Erziehung, stärkt, allerdings nicht mit dem mahnenden Zeigefinger. Erziehungsstile sind ja keine expliziten Regeln, wo man sagt: „Das und das befolgen wir“, sondern es ist ein Habitus, etwas, was aus Gewohnheit erfolgt. Das ist nicht über einen Entscheidungsprozess lösbar, indem man sagt: „Na gut, jetzt lass ich mein Kind laufen.“ Ich habe vom Kontext eines Erziehungsstiles gesprochen: Der war sinnvoll in der Herkunftskultur. Dass er hier keinen Sinn hat, dass es hier gut ist, wenn Kinder nicht auf Gehorsam, nicht auf stumpfe Normenbefolgung hin erzogen werden, und dass das nichts zu tun hat mit Vertrauensverlust und Abbruch der Bindung an die Eltern, das muss man ihnen klar machen.

Doch es gibt die hergeheirateten Mütter, die immer wieder den hier unfunktionalen Erziehungsstil importieren, und Väter, die es eigentlich besser wissen könnten, überlassen ihnen die Kindererziehung. Sind solche Ehen nicht eigentlich Widerstand gegen Veränderung?

Ja, da werden Abstände zur Mehrheitskultur reproduziert. Ich glaube, dass dabei die Vorstellung von sexueller Ehre, also Reinheit einerseits, andererseits aber auch Abhängigkeit in dem Sinne, dass die Frau von einem abhängig ist, eine Rolle spielt. Die jungen Männer und nicht nur sie, oft auch ihre Eltern meinen: Diese Frau hört viel mehr auf uns, sie lässt sich darauf ein, einige Jahre in der Großfamilie, im gemeinsamen Haushalt zu leben. Sie soll einerseits wie eine Tochter des Hauses Haushaltsarbeiten machen, andererseits dem Sohn als Ehefrau und Mutter zur Verfügung stehen. Das sind Forderungen, die sie gegenüber einem Mädchen von hier – das auch andere Wirklichkeiten kennt, das, wenn’s allzu eng und spannungsreich wird, Möglichkeiten der Zuflucht zu den eigenen Eltern hat, das aber auch die deutsche Öffentlichkeit, die deutschen Institutionen kennt – möglicherweise nicht durchsetzen könnten.

Der Schritt, sich so eine Frau zu holen, ist also schon eine Kapitulation vor der Moderne.

Möglicherweise ist das so. Dass sie sagen: So haben wir weniger Ärger, müssen weniger Kompromisse eingehen.

Das Bedürfnis nach einer gleichberechtigten Partnerin ist also nicht sehr groß?

Das ist ein Gedanke, der typisch modern ist: die Idee der Gleichberechtigung, auch die Idee der Authentizität, dass wir nach außen wie nach innen transparent sind, dass wir in unserem öffentlichen wie privaten Selbst einheitlich sind. Ich glaube, dass diese Ideen sich für viele kollektivistische Kulturen so noch nicht durchgesetzt haben. Das Weltbild ist dort viel stärker strukturiert in einen öffentlichen und privaten Raum, einen weiblichen und einen männlichen Raum. Das sind Kriterien, die bei Türken noch viel wirksamer sind, in dieser Gesellschaft aber eine ganz starke Abschwächung erfahren haben. Hier kommt auch ein Problem der Moderne zum Tragen, nämlich die individuellen Konflikte, die die Einzelnen unter diesen Spannungen austragen müssen, wobei sie selbst oft nicht merken, von welchen Konflikten sie geleitet sind.

Ist da die Bereitschaft zur Selbstkritik, zu Veränderung bei großen Teilen der türkischen Community vorhanden?

Mit Selbstkritik ist es ja immer so: Wenn sie allzu stark geäußert wird, macht man sich seine eigene Handlungsfähigkeit kaputt, man verunsichert sich selbst. Anteile der eigenen Identität aufzugeben heißt ja immer auch Schwächung der bisherigen Identität. Das Neue wird generell nie so erworben, dass man das Alte wie eine alte Haut abstreift. Es sind eher Überlagerungsprozesse, die im Untergrund ablaufen, nicht Entscheidungsprozesse. Man sagt nicht schroff: Ich entscheide mich für ein anderes Leben, meine Tochter, meinen Sohn erziehe ich jetzt anders. Es ist ja deutlich, dass Umbrüche stattfinden, Umbrüche, mit denen Eltern weniger klarkommen als Jugendliche und wobei einige ganz stark am Hergebrachten festhalten und das Tempo der Veränderung verlangsamen wollen. Und vielleicht müssen wir dieses Gespräch zwei, drei Generationen später noch einmal führen, und dann anhand des Längsschnitts schauen, was sich wirklich geändert hat.