„Es sieht nach Vendetta aus“

Gott sei Dank, dass es Homer Simpson gibt: Die US-Singer/Songwriterin Tori Amos über Amerika, von innen und von Europa aus betrachtet, über seine Kultur der Gewalt sowie deren genetische Wurzeln

Interview DANIEL BAX

taz: Frau Amos, was ist Ihr Lieblingssong über Amerika?

Tori Amos: Hmm. Vielleicht „Hotel California“? Ich habe den Song erst gestern im Radio gehört, in Hamburg. Das war wie ein Echo aus der Vergangenheit.

Haben Sie eine spezielle Beziehung zu diesem Song?

Er ist so kalifornisch. Die Eagles haben ja viel über die Westcoast geschrieben, und ich habe dort eine Weile gelebt. Jedes Mal, wenn ich den Song höre, habe ich die Bilder vor Augen.

Seit fünf Jahren leben Sie in England. Sieht Amerika anders aus, von dort betrachtet?

Nun, wenn man in Amerika ist, dann ist es sehr schwierig, an die gleichen Informationen zu gelangen, die man erhält, wenn man sich außerhalb befindet. Es herrscht einfach eine völlig andere Weltsicht. Ich fand das immer sehr befremdlich.

Aber so ist das im Land der unbegrenzten Möglichkeiten: Sie müssen dort keine Bücher verbrennen. Das ist nicht die Strategie. Man gibt den Leuten vielmehr hunderte von Kanälen und so viel Ablenkung, aber nur sehr wenig wirkliche Informationen – über das, was unsere Politik ist, und wie die Menschen außerhalb Amerikas darauf reagieren.

Es herrscht diese Jerry-Springer-Kultur vor (Moderator einer notorischen Krawall-Talkshow; d. Red.). Aber es gibt auch viele Leute, die tief beunruhigt sind. Nicht jeder in Amerika ist ja total bescheuert. Es gibt eine Menge kritischer Stimmen. Und es gibt Homer Simpson, Gott sei Dank!

Ihr jüngstes Album „Scarlet’s Walk“ handelt von Amerika …

Es geht um eine Frau, die nach der Seele Amerikas sucht. Sie wird von einer Freundin in L.A. angerufen, einem ehemaligen Porno-Starlet, das in Schwierigkeiten steckt. Also macht sie sich auf den Weg zu ihr. Man kann in dieser Freundin eine Personifikation Amerikas sehen, und sie steht an einer Wegscheide – wie Amerika selbst.

Das ist also die Geschichte?

Das ist die Geschichte, ja. Aber in einem tieferen Sinne geht es darum, an was man glauben soll in einer Zeit, in der es so viel irreführende Informationen gibt.

Sie meinen, in Folge des 11. Septembers?

Ja. Wenn man von einer äußeren Macht angegriffen wird, dann rückt man naturgemäß enger zusammen, auch wenn man im Grunde eine zerstrittene Familie ist. Aber es gab auch einen inneren Verrat. Ganz gewöhnliche Menschen, die so wie meine Eltern sind, haben alles verloren, weil sie einem System vertraut haben, das keinen Moralkodex besitzt. Das war keiner Einwirkung einer äußeren Macht geschuldet. Hier wurden Versprechen nicht eingehalten.

Was meinen Sie mit Verrat?

Das, was an der Wall Street passiert ist, mit Enron und diesen Firmen. Verrat ist etwas, das in den genetischen Code Amerikas eingeschrieben scheint.

Deutschland hat seine Geschichte, England hat seine Geschichte. Aber wenn man die Geschichte der USA betrachtet, dann gründet sie zum Teil auf gebrochenen Vereinbarungen mit den Ureinwohnern.

Diese Leute waren da, und es kamen andere, die sich das Land genommen haben. Das aber wird nicht an unseren Schulen gelehrt. Stattdessen wird der Eindruck vermittelt, es sei in Ordnung, sich Dinge einfach zu nehmen, wenn man der Stärkere ist.

Sie gelten als Vorbild für eine ganze Reihe weiblicher Songwriterinnen, die seit den Neunzigerjahren die Popszene bestimmen. Ist das ein Zeichen für einen gesellschaftlichen Wandel?

Ja, aber gleichzeitig gab es einen Backlash, der gleichfalls in den frühen Neunzigern eingesetzt hat. Es gibt eine Kultur des Hasses, die sich auch in der Popmusik artikuliert. Das kommt nicht von außen, das kommt von innen. Offenkundig gilt Gewalt wieder als ein akzeptabler Weg, mit Dingen umzugehen. Die statistische Kurve für Vergewaltigungen und Missbrauch zeigt nicht nach unten, sondern nach oben, die Zahlen steigen.

Worauf führen Sie das zurück?

Vielleicht liegt es daran, dass Frauen heute einen größeren Teil des Kuchens nach Hause bringen als früher. Frauen sind heute im Vorstand großer Firmen, und in vielen ganz normalen Beziehungen verdient die Frau mehr als der Mann. Das hat zur Verunsicherung vieler Männer geführt, deren Rollenverständnis darauf beruht, sich als Ernährer zu sehen. Sie fühlen sich impotent und versuchen, aus anderen Quellen Kraft zu schöpfen.

Erklären Sie sich damit die gegenwärtige Kriegsrhetorik?

Amerika sucht eine Vaterfigur, einen Heeresführer: Das ist noch ein anderer Aspekt seines genetischen Codes, den es von Europa geerbt hat. Die gegenwärtige Regierung versucht, sich in diesen Mantel zu hüllen. Aber wenn sie unsere Schriftsteller und politischen Analysten, die jene Fragen stellen, die sie stellen müssen, beschuldigen, sie würden ihr Land nicht lieben, dann funktioniert diese Rhetorik nicht mehr: Das ist pure Verleumdung.

Hat das nicht funktioniert, nach dem 11. September?

Es hat insofern funktioniert, als die Leute eingeschüchtert waren durch diese Art, Paranoia zu schüren gegen Leute, die einfach nur zu denken wagen, wie in der McCarthy-Ära. Aber jetzt kann die Autorität wieder in Frage gestellt werden. Und die Leute fragen sich, was ist da los? Ist das eine persönliche Vendetta? Es sieht jedenfalls ganz so aus.

Was ist Ihre Prognose?

Amerika steht am Scheideweg, und viele Leute scheinen das wahrzunehmen. Es erinnert mich ein wenig an 1968: Damals war ich zwar erst fünf Jahre alt, aber ich kann mich trotzdem noch an die Atmosphäre erinnern. Es war für die damalige Generation, als sei sie aus einem Schlaf erwacht – weil sie wusste, dass sie einen Krieg übergeben bekommen würde, den sie nicht wollte. Heute haben wir das gleiche Szenario: Jetzt ist es an denen, die nicht schlafen, die Kerze im Fenster anzuzünden. Wir alle wissen, dass die Uhr läuft. Und dass bestimmte Schritte nicht rückgängig gemacht werden können.

Tournee: 21. 2. Oberhausen, 23. 1. Hamburg, 25. 1. München, 1. 2. Berlin, 5. 2. Frankfurt