In einem dunklen Spiegel

Der mexikanische Autor Jorge Volpi gehört zur „Generación del Crack“ und will mit anderen die Literatur Südamerikas revolutionieren. Nun ist sein Roman „Der Würgeengel“ übersetzt worden

von ANNE KRAUME

Auf Albrecht Dürers Kupferstich „Melencolia 1“ sitzt die geflügelte Frauengestalt halb abgewandt da. Sie hat den Kopf aufgestützt, den Zirkel noch lose in der Hand haltend, achtet sie nicht auf die umherliegenden Werkzeuge am Boden und auch nicht auf das halbfertige Bauwerk hinter ihr. – „El temperamento melancólico“, so heißt das neue Buch des mexikanischen Autors Jorge Volpi im Original. In der deutschen Übersetzung ist aus diesem Titel eine Anspielung auf Luis Buñuel geworden: „Der Würgeengel“.

Die Welt des Kinos spielt im Roman eine wichtige Rolle. Volpis melancholischer Protagonist und Würgeengel ist Regisseur, und dass sein Name Carl Gustav Gruber so wenig mexikanisch klingt, kommt nicht von ungefähr: Eine in den Erzähltext eingeschobene fiktive Seite aus der Neuen Enzyklopädie des deutschen Films berichtet, Gruber sei zusammen mit Fassbinder und Schlöndorff einer der Gründerväter des Neuen Deutschen Films gewesen.

Der Regisseur weiß, dass er bald sterben muss, und möchte einen letzten Film drehen. Für dieses Projekt heuert Gruber zehn mehr oder weniger erfahrene Schauspieler an; gedreht werden soll auf einer abgelegenen mexikanischen Hazienda. Dass die Schauspieler niemals ein Drehbuch zu Gesicht bekommen und dass sich die Beziehungen innerhalb der Gruppe schon früh komplizieren, das sind alles nur Vorstufen zu einem apokalyptischen Finale.

Die Erzählerin des Romans ist eine von Grubers Schauspielerinnen. Außerdem reichert ein ungenannt und unerkannt bleibender „Kompilator“ die Handlung mit scheinbar nüchternen Fakten und Beweismitteln an: die Filmenzyklopädie, ein Interview, das angeblich Claude Chabrol vor Jahrzehnten mit Gruber geführt hat, Auszüge aus dessen Notizen und aus dem Tagebuch seiner verstorbenen Frau. Das Panorama, das sich auf diese Weise ergibt, ist breit angelegt, und als zum Schluss der Roman zu einer Art Drehbuch mutiert und der Leser über weite Strecken nur noch dem Verlauf von Grubers Dreharbeiten folgt, da ist der Film, der vor dem inneren Auge abläuft, tatsächlich die logische Folge aus all dem Material, das zuvor präsentiert wurde.

Ein Roman wie ein Spiegelkabinett, das die Bilder vergrößert, verzerrt und tausendfach multipliziert – Jorge Volpi weiß, dass dieses Spiel nur dann funktioniert, wenn die Leser mitspielen. Die Forderung nach engagierten Lesern hat er deshalb schon vor Jahren gemeinsam mit einer Gruppe von Freunden formuliert: „La generación del Crack“ nennen sich diese jungen Schriftsteller. Mit dem Bruch, der in dem Namen anklingt, ist es ihnen durchaus ernst – sie sind angetreten, um die Literatur Lateinamerikas und insbesondere Mexikos zu revolutionieren.

Man hat ihre Forderungen oft missverstanden: Sie wollten ein für alle Mal aufräumen mit dem Magischen Realismus und mit Autoren wie Gabriel García Márquez oder Mario Vargas Llosa, hieß es. Das stimmt nicht. Einen Bruch inszenieren die Crack- Mitglieder, das schon, aber weniger mit dieser Großvätergeneration als vielmehr mit deren Nachahmern: Autoren wie Isabel Allende oder Laura Esquivel haben Themen und Formen aus dem Magischen Realismus mit seinem charakteristischen Nebeneinander von unterschiedlichen Zeit- und Wirklichkeitsebenen übernommen; ihre Bücher sind dabei aber immer mehr zur anspruchslosen „Light-Literatur“ verkommen, die mit den vielschichtigen, oft leise ironischen und humorvollen Erzählungen etwa von García Márquez nur noch wenig zu tun hat.

Volpi und seine „Mitverschwörer“ wenden sich deshalb bewusst an ein anderes und jüngeres Publikum. Ihre Romane erinnern in nichts an die Geschichten, die man in Europa für besonders lateinamerikanisch hält: Der 1968 geborene Jorge Volpi schreibt ebenso wenig Familiensagas, wie sein Protagonist Gruber sie inszeniert, seine Liebesgeschichten sind eigentlich keine, und in seinen Büchern mischen sich niemals magisch-mystische mit realistischen Elementen.

Auch der Rahmen, innerhalb dessen sich Volpis Geschichten abspielen, ist nicht auf Lateinamerika begrenzt. Volpis „Würgeengel“ spielt zwar noch in Mexiko, erscheint aber dennoch seltsam ortlos – und „Das Klingsor-Paradox“, sein nächster, vor einem Jahr bereits übersetzter Roman, führte in das Deutschland des Zweiten Weltkriegs.

Jorge Volpi: „Der Würgeengel“. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Klett-Cotta, Stuttgart 2002, 304 S., 19 €