Kritisches Bewusstsein

DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY

Gewiss findet man in den 80ern den Gedanken, Zustimmung sei die letzte verbliebene Form der Dissidenz

Es entspricht dem Zeitgeist, naive, offene, schlichte Menschen der Lächerlichkeit preiszugeben. Vielleicht, weil sie den Verführungskünsten unserer medialen Verblödungsmaschinerie standhalten und weil sie deshalb verdächtig sind. Konstantin Wecker gehört zu diesen schlichten und naiven Menschen, die nie aufhören werden, neugierig und unverstellt auf den Nächsten zuzugehen. Als Lernender, als Liebender. In dieser Geisteshaltung ist Wecker in den Irak gereist, und wir hätten ihm Glück und Gottes Segen wünschen sollen. Leserbrief von Dr. Hans-Peter Taubitz, München; SZ vom 20. Januar 2003

das geschwächte und der Realität immer hörigere Bewusstsein verliert mittlerweile die Fähigkeit, jene Anspannung der Reflexion zu leisten, die ein Begriff von Wahrheit fordert, der nicht dinghaft und abstrakt der bloßen Subjektivität gegenübertritt, sondern sich entfaltet durch Kritik, kraft der wechselseitigen Vermittlung von Subjekt und Objekt. Theodor W. Adorno, Meinung Wahn Gesellschaft (1961)

Das bezweifle ich, dass es Konstantin Wecker erfreut, wenn Dr. Taubitz ihn als naiv, offen und schlicht preist. Ich gehe davon aus, dass Konstantin Weckers Stolz darauf zielt, über kritisches Bewusstsein zu verfügen, wie das seit den Sechzigern heißt. Konstantin Wecker lässt sich von der allgemeinen Kriegspropaganda gegen den Irak nicht verdummen. Auch Dr. Taubitz zeigt solchen Stolz, wenn er sich in seinem Lob für Konstantin Wecker vom Zeitgeist und der medialen Verblödungsmaschinerie absetzt – ein SZ-Autor hatte Konstantin Weckers Irakreise als PR-Maßnahme entlarvt. Keiner der drei bewies also das der Realität immer hörigere Bewusstsein, das zu Kritik und Widerspruch unfähig wäre, im Gegenteil.

Das kritische Bewusstsein machte in der Bundesrepublik eine erstaunliche Karriere. In den Sechzigern, als Adorno sein Verschwinden beklagte, galt es unter den jungen Leute unserer Kreise als das Geilste, Hipste, Coolste. Warum sie denn Soziologie studiere, fragte ein älteres Semester die frisch gebackene Kommilitonin bei einer Straßenbahnfahrt. „Um die Gesellschaft zu durchschauen“, antwortete das Mädchen begeistert. Kritisches Bewusstsein ist keine quasi-natürliche Ressource – wie musikalische und andere Begabung –, kritisches Bewusstsein ist das Ergebnis harter Arbeit.

In den Sechzigern, als unsereins zur Frankfurter Schule ging, war auch klar, dass kritisches Bewusstsein sehr selten ist. Die gesellschaftlichen Verhältnisse definierte ja gerade, dass mächtige Apparate der Ideologieproduktion das allgemeine Bewusstsein täuschen. Die Gesellschaft, die das Erstsemester durchschauen lernen wollte, durchschaute sich selbst gerade nicht.

Seitdem erweist kritisches Bewusstsein sich immer noch daran, dass es sich von einem allgemeinen (unkritischen, falschen) Bewusstsein absetzt. Früher nannte man das auch „die breite Masse“; Dr. Taubitz nennt es Zeitgeist sowie mediale Verblödungsmaschinerie (in den Grundschriften hieß es Kultur- respektive Bewusstseinsindustrie). Die Leserbriefseite, auf der sich Dr. Taubitz äußert, füllen so gut wie ausschließlich mahnende und warnende, klagende und schimpfende Einreden gegen den Irakkrieg – aber jeder Schreiber inszeniert sich als einsamer Rufer, dem niemand folgt.

Das bringt in der Tat interessante Probleme mit sich, wenn kritisches Bewusstsein von einer elitären zu einer Massenerrungenschaft wird; wir leben, behaupte ich gern, in einer Gesellschaft der Gesellschaftskritiker; die BRD insgesamt ist durch die Frankfurter Schule gegangen, nicht bloß ihre avancierten Kader. Die Kritische Theorie ist eine Success Story – was vielen ihrer Veteranen einzusehen so schwer fällt.

Brauchen sie auch gar nicht. Man kann ja einfach weitermachen – wie Dr. Taubitz – und entlarven, wie die Kultur- und Bewusstseinsindustrie das allgemeine Publikum für George W. Bushs Krieg gegen den Irak vorbereitet. Freilich finden sich unterdessen auch andere kritische Stimmen, die den in der BRD so weit verbreiteten Pazifismus als allgemeines und falsches Bewusstsein einschätzen. Unübersichtlich gestaltet sich nicht nur die soziale Verteilung des kritischen Bewusstseins, die wenigen/die vielen; offenbar sind auch die Inhalte, wie schon das Beispiel Bellizismus/Pazifismus lehrt, nicht eindeutig zu codieren. „Besonders kriegslüstern sind doch gerade die Kriegsgegner. Eine schwere Niederlage, wenn Präsident Bush zum Rückzug bläst.“

Weil niemand darauf verzichten kann, sein eigenes Bewusstsein als ein kritisches zu inszenieren, versagen auch die anderen Codes, rechts/links oder liberal/konservativ. In den Sechzigern bestand kein Zweifel, wo einen die Ablehnung der modernen Kunst oder der sexuellen Freizügigkeit verortete. Klar, auch heute wissen wir, wo bayerische Voten gegen die Homoehe oder ein entspanntes Lehrer-Schüler-Verhältnis („Kuschelpädagogik“) hingehören. Aber was beispielsweise die Gentechnologie und den so genannten Lebensschutz angeht, so wurde schon mancher progressive Feuilletonist beim neokatholischen Frömmeln beobachtet. Insgesamt herrscht in diesen Dingen ein hochgestimmter Katastrophismus. Ein Imitat der Verzweiflung, welche die Kritische Theorie wegen des Nazismus erfüllte? Seitdem muss man bei jeder anstehenden Frage mit einem Epochen- oder Kulturbruch drohen.

Die Kritische Theorie ist eine Success Story – was vielen ihrer Veteranen einzusehen so schwer fällt

Besonders tut sich dabei bekanntlich eine Frankfurter Zeitung für Deutschland hervor (die ich nicht lese, von der ich mir aber immer wieder gern erzählen lasse). Wie man kritisches Bewusstsein geradezu kreischend und gleichzeitig jenseits der Codierungen rechts/links oder konservativ/progressiv inszeniert, darin scheinen sich Feuilletonisten ganz Erstaunliches zu leisten. Professor Baring und Doktor Schirrmacher riefen zur Revolution auf – vielleicht vergleicht mal ein Philologe diese Texte mit Enzensbergers Brandrede bei der großen Kundgebung gegen die Notstandsgesetze 1966. „Nicht mal unsere Revolution ist ihnen heilig.“

Und jetzt? Die Kollegin Lau meinte ja mal, man solle auf Affirmation umstellen; schon vor Jahrzehnten rief Bazon Brock, in der Frankfurter Schule gut durchtrainiert, zu einer Revolution des Ja auf, und gewiss findet man irgendwo in den Achtzigern den Gedanken, Zustimmung sei die letzte verbliebene Form der Dissidenz. Freilich macht Dr. Taubitz, indem er Konstantin Wecker zum Parzival ernennt, der auf den Iraker liebend und lernend, neugierig und unverstellt zugeht, eindrucksvoll deutlich, in welche Schwierigkeiten das kritische Bewusstsein gerät, wenn es sich selbst als Affirmation inszenieren möchte. Es muss aus sich heraus das Positive erfinden, das aber sofort als Erfindung kenntlich wird und verfliegt.

Nein, wir müssen einfach auf die Idee verzichten, hier gehe es um Gesellschaftskritik „im empathischen Sinn“. Das kritische Bewusstsein wurde Element jenes großen Distinktionsspiels, das Pierre Bourdieu so meisterhaft analysierte (bevor er sich zum Propheten der Randgruppen ernannte). Daher diese andauernden Anstrengungen zur Überbietung und Zuspitzung. Ja, wir leben in einer Gesellschaft der Gesellschaftskritiker. Ist doch okay.