Nutze die Popkultur

Die letzten Nischen der Subversion: Zwei Poptheorie-Reader suchen nach dem guten Pop im schlechten. Doch zum Glücksversprechen der alten Popmythen führt wohl kein Weg zurück

von GERRIT BARTELS

Mutig sind sie ja, die Verantwortlichen für die Edition-Suhrkamp-Reihe. Vielleicht ist es auch nur ein Selbstbewusstsein, das sich aus einer langen Tradition ableitet. Aber einen Popdiskurs-Reader „Popvisonen“ zu nennen, im Untertitel zu versprechen, „Links in die Zukunft“ zu legen, und dann auf dem Buchrücken die alten Popmythen zu beschwören, auf die sich alle noch so unterschiedlichen Popjünger einigen können: „Ablehnung des Spießertums, Lust auf Freiheit und ein unbändiger Erlebnishunger“ – das hat schon was in einer Zeit, in der Pop nicht nur viel von seinem alten Glanz verloren hat, sondern auch viel zwiespältige Gefühle auslöst: Orwell’sche Ausmaße habe der angenommen, klagen die einen schon länger und wollen nichts mehr von Pop wissen. Ein alter Hut, wissen wiederum die anderen seit kurzem und finden es irgendwie popimmanent, auch nichts mehr von ihm wissen zu wollen.

Erst im vergangenen Jahr fielen hierzulande zwei an sich viel versprechende und alles andere als vulgär-trashige Popbastionen: die Popliteratur und der Popjournalismus. Was nicht zuletzt ökonomische Gründe hatte: Die Popliteratur verkaufte nicht mehr, und da es den Verlagen sowieso schlecht ging wie nie, setzten sie in Folge wieder auf große Namen statt auf immer neue Debütanten. Nicht viel anders ging es dem Popjournalismus: Nachdem das SZ-Jugendmagazin Jetzt und die Berliner Seiten von FAZ und SZ eingestellt worden waren, wurde mancherorts geradezu beseelt-hämisch sein Ende verkündet – was besonders tragisch war, weil der Popjournalismus von seinem Treiben als Popjournalismus erst im selben Moment erfahren hatte: Ach guck mal an, Popjournalisten waren wir also! Wenn aber mit Pop kein Geld mehr zu verdienen ist, steht er nur noch auf einem Bein – dann ist er seiner Warenförmigkeit beraubt und nur noch priviligiertes Erkenntnismedium. Also auch ein Fall für Suhrkamp.

Die Veröffentlichung des von den drei Soziologen Klaus Neumann-Braun, Axel Schmidt und Manfred Mai herausgegebenen „Popvisionen“-Band passt vor diesem Hintergrund gut ins Bild und liefert den einen oder anderen Widerspruch gleich mit: überschaubare Auflage, nicht allzu hohe Kosten, null Gewinnerwartungen. Indierock in Krisenzeiten. Der Anspruch aber ist ein typisch hochkultureller, denn Popkritik soll hier nicht wie eine gute Single funktionieren, sondern tief greifend sein, vor allem von einer gewissen Dauer. Pop ist eben doch nicht tot, sondern mindestens ein würdiges Studienobjekt für die Hochkultur. Kategorien wie „brandaktuell“ oder „ganz neu“ zählen da nur wenig: „Popvisionen“ ist ursprünglich hervorgegangen aus einer Tagung, die Ende 2000 unter dem Titel „Quo Vadis, Pop“ in Essen stattfand, und die aktuellsten Texte dürften Ende des Jahres 2001 entstanden sein. (Leider fehlen Hinweise auf die genaue Entstehungszeit der Beiträge, und auch ob und in welchen Fassungen sie schon einmal wo erschienen sind.)

Abgesehen von Schlagworten wie „alte Popmythen“ und eben „Popvisionen“ hat man so auch auf ein gewaltsam konstruiertes Leitmotiv verzichtet und begnügt sich in der Einführung mit der knappen Zusammenfassung der dreizehn grob in drei große Kapitel („www.pop.de“, „Global music“ und „Globalkolorit“) gegliederten Beiträge. Diese beschäftigen sich gewissenhaft und in einem besonnen-analytischen Gestus mit den unterschiedlichsten Facetten der Popkultur und dem Leben im und mit Pop: Napster und die Folgen, die Wechselwirkungen von Musik und Technik und die vom Globalen und dem Lokalen, das Kauf- und Distinktionsverhalten des Durchschnittspopkonsumenten (der hier das schöne Kürzel AJO für allgemein jugendkulturell Orientierte bekommen hat), die Popmusik im Spannungsfeld von Kunst und Kommerz, die Eventisierung der Wagner-Festspiele usw. usf.

So vielfältig das popkulturelle Themenspektrum ist, so vielfältig ist trotz der durchweg nüchtern-distanzierten Betrachtungsweise auch die persönliche Haltung zum Gegenstand. Während Volker Kalisch dezent kulturpessimistisch vor den Freiheitsversprechen der Computertechnologie (Entfremdung!, Erfahrungsverlust!) warnt, bricht Manfred Mai eine Lanze für die Freizeitkultur und beschreibt das Instrumentarium der Kulturkritik in Form der Kritischen Therorie als veraltet. Dabei richtet er sich nolens volens auch gegen die nie ohne ihren Adorno auskommende Popkritik und die Popskeptiker in den eigenen Reihen. Thomas Groß wiederum mahnt zur Vorsicht im Hinblick auf voreilige Prognosen die Zukunft der Unterhaltung betreffend, entwirft dann aber doch ein Szenario des nur irgendwie freien, zwar vielfältig vernetzten, aber komplett durchleuchteten und kontrollierten Popkonsumenten. Und Diedrich Diederichsen beschreibt fast wehmütig die elektronische Musik zwar noch als Pop, aber als einen, „der, zirkulärer geworden, nur noch sich selbst verspricht, Pop, der weniger auf gesellschaftliche als auf technische Versprechen gerichtet wäre, aber darin sich ja nur noch ähnlich entwickelt hätte wie der Rest unserer Zivilisation“.

Viel Skepsis also, von Zukunftsverheißungen keine Rede. Doch in einigen Beiträgen schimmert aus einer alten Verbundenheit mit der Popkultur auch so mancher Hoffnungssschimmer hindurch: Pop muss doch noch die Fähigkeit zur Selbstreinigung haben! So ganz können doch seine subversiven und progressiven Elemente nicht verschwunden sein! Malte Friedrich und Gabriele Klein etwa bezweifeln, dass Pop vollständig entpolitisiert ist. Sie verweisen auf die Offenheit und Gemeinschaftlichkeit global verbreiterter, aber lokal verankerter und sich immer wieder erneuernder Popszenen: „Weil sich die diasporischen Gemeinschaften des Pop eindeutiger Festschreibungen entziehen, bieten sie eine Alternative zu jenen nationalistischen und rassistischen Versuchen, lokal fixierte und ethnisch homogene Kulturen zu erzwingen.“ Und auch Olaf Karnik stellt bei seiner eingehenden Analyse von Texten und Musik von Bands wie Blumfeld oder Jan Delay, aber auch von rein elektronischen Acts wie Mouse On Mars oder Oval fest: „Pop als Leitkultur konnte sich deutsche Popmusik mit ernsthaften Anliegen nicht länger gefallen lassen.“

Da geht es dann fast kämpferisch zu, das wirkt entschlossen angeschrieben gegen alle Ohnmachtsgefühle im Hinblick auf die beängstigende Totalität von Pop: Es gibt ihn vielleicht doch noch, den guten Pop im schlechten. Ja, vielleicht müssen die neue Ernsthaftigkeit auf der einen und „Deutschalnd sucht den Superstar“ auf der anderen Seite noch lange nicht das Ende der Fahnenstange sein.

Zu der Spezies des etwas optimistischeren Popdenkers gehört auch der Bremer Kulturwissenschaftler Jochen Bonz, der vor zwei Jahren als Herausgeber verantwortlich war für einen ebenfalls in der Edition Suhrkamp veröffentlichten Pop-Reader namens „Sound Signatures“. Dieser war seinerseits eine Art Phänomenologie der Popkultur: Er zeichnete sich durch Begeisterung, persönliche Involviertheit und analytische Rede aus, aber auch durch das Zulassen unterschiedlichster, auch popliterarischer Schreibweisen.

In seinem neuen Buch mit dem bezeichnend trockenen Titel „Popkulturtheorie“ versammelt Bonz acht Beiträge, die sich mit „Pop im Spannungsfeld von Subjektivität und Kultur“ beschäftigen wollen und thematisch ein breites Spektrum abdecken: von der Popularität der Jeans in der DDR geht es über üblich verdächtige Issues wie Identitätskonstruktionen im HipHop oder das Schreibprogramm Rolf Dieter Brinkmanns bis zu den Veränderungen, die Punks in einem kleinen slowenischen Dorf verursachen.

Bonz verspricht, dass man beim Lesen des Buches allein der Unvereinbarkeit der Beträge halber einige Spannungen aushalten muss. Tatsächlich aber sorgen ein vorherrschender Ton und Stil von Seminararbeiten für viel Spannungsabfall und lassen manchen Beitrag auch nicht unbedingt relevanter werden. Ja, man ertappt sich dabei, sich das ungeordnete, wilde Fanschreibertum zurückzuwünschen, als hierzulande Pop noch nicht Gegenstand universitärer Forschungen geworden war. So ist zum Beispiel schnell begreiflich, wie sich die slowenischen Punks und der Rest der Dorfbevölkerung gegenseitig beeinflussen, da braucht es die niedlichen Schaubilder gar nicht, in denen vor grau oder weiß schraffierten Hintergund steht: Punk-Subkultur, herrschende Kultur der Dorfeinwohner!? Auch die Notwendigkeit der Frage, die sich Anja Rosenbrock stellt, mag man bezweifeln: „Treiben Pop- und Rockbands Komposition?“, zumal sie am Ende zu dem umwerfenden Ergebnis kommt, dass Pop- und Rockbands „relativ dauerhafte Musikstücke schaffen wollen, welche für Proben- und Live-Auftritte eine mehr oder weniger feste Fassung bekommen sollen“. Und auch Jochen Bonz’ Text über die „Subjektposition Girl“ wirkt vor allem so, als wolle hier jemand endlich mal sein jahrelanges Lacan-Studium in der Praxis anwenden. (Armes Riot-Girl!)

Aber es gibt natürlich auch ein Highlight mit ansatzweise visionärem Charakter. Christian Höller schildert die Reaktionen der Popkultur auf den 11. 9., vor allem aber die Vorwegnahme dieses Katastrophenszenarios in Videos und Texten von The Coup, Super Furry Animals oder Lalipuna. Auch er kommt zu dem hinreichend bekannten Schluss, dass die Popkultur eine nimmermüde ist und sich nicht nur unentwegt Teile ihrer selbst, „sondern auch immer mehr Realitätssplitter, ob katastrophisch oder nicht, einverleibt: Wie eine gefräßige Maschine, die unablässig vom weltweit Vorhandenen, aber auch vom noch nicht Dagewesenen gefüttert werden will.“

Allerdings will Höller nicht nur den Teufel von der Totalität der Popkultur an die Wand malen; die vielfältig fließenden Verbindungen, die Pop mit Politik und Wirtschaft, mit den ihn mitkonstituierenden Bereichen wie Sport, Computerkultur, Film, Mode usw. eingeht, sind für ihn vielmehr wackere Syntheseleistungen. Abseits der „weltweit festgelegten Unterhaltungsgeografie“ komme es so zu immer wieder neuen Andersheiten und kleinen Nischen, die Höller die zarte Hoffnung hegen lassen, dass „die Vielheit und Verzweigtheit der Austauschprozesse niemals von einer wie immer gearteten ‚Kolonialmacht‘ stillgelegt werden kann“.

Als „Leben trotz Pop“ sieht er die zukünftigen Umgangsformen mit der Popkultur, wohl wissend, dass man Pop so schnell nicht wieder los wird. Also ist es besser, das Beste daraus zu machen. Nicht meide die Popkultur, sondern nutze sie!

Klaus Neumann-Braun u. a. (Hg): „Popvisionen“. Edition Suhrkamp, 276 Seiten, 11 €; Jochen Bonz (Hg): „Popkulturtheorie“. Ventil Verlag Mainz, 158 Seiten, 13,90 €