Der Buddha einer Generation

Teddy, der Inkommensurable (2): Der Studentenbewegung öffnete Theodor W. Adorno die Augen für die Nacktheit der Autoritäten. Aber auch die Vertreter des Antiautoritären standen ohne Kleider da

von REINHARD KAHL

Kürzlich habe ich ein dreiteiliges Tonband aus dem Keller des NDR-Schallarchivs geholt. Theodor W. Adorno und Elias Canetti im Gespräch. Welch ein Duett, dachte ich, die helle und harte, zugleich jugendlich aufgeregte Stimme des Schriftstellers zusammen mit dem dunklen, vorsichtigen, aber durch nichts zu beeindruckenden Singsang des Philosophen. 68 Minuten und 15 Sekunden, am 21. Februar 1962 im Nachtprogramm des NDR gesendet. Thema war Canettis 1960 erschienener Großessay „Masse und Macht“.

Voller Vorfreude also lege ich den ersten Wickel auf die Magnetophonteller. Die Technikerin lauscht. „Endlich mal kein Dudelfunk.“ Doch bald gähnt sie, blickt mich um Erklärung bittend an. Worüber reden die eigentlich? Ja, worüber reden sie nur? Über Canettis Buch. Canetti erzählt erstaunt, ja erschreckt von „Hetzmassen“ und „Fluchtmassen“, über die „Kriegsmeute“ und die „Klagemeute“. Lauter Metamorphosen, die uns bekannt, sogar aktuell vorkommen. Für den Schriftsteller Canetti ist die Welt Verwandlung oder gestockte Verwandlung. Das müsste doch der Berührungspunkt zu Adornos Nichtidentischem sein. Aber es kommt kein Gespräch auf. Das Verwandlungsmedium Sprache bleibt kalt.

Adorno, der in dieser Sendung der Fragende sein soll, scheint absolut wissend, produziert ungefragt Antworten allergrößter Reichweite, ist nicht neugierig auf Canettis Mythen- und Ethnologiefunde, nicht mal seine Irritation über Canettis eigenwillige Metaphorik lässt er sich anmerken. Ein groteskes Nichtgespräch. Selbst wenn Canetti von Totemtieren und von Weltentstehungssagen australischer Ureinwohner erzählt, findet Adorno im Nu Schutz auf seinem Heimatkosmos und spricht von „Verdinglichungen“ und „Verblendungszusammenhängen“, gegen die er wiederum seine Kritische Theorie in Stellung bringt. Substantive wie Geschütze. Auf Canetti wirkt dieser Ansturm von Gewissheiten entwaffnend. Damit kann er nichts anfangen. Er bleibt freundlich und wird immer freundlicher, versucht Adorno schließlich Vorlagen zu geben, damit doch noch ein Gespräch in Gang kommt. Es gelingt nicht. Ein verstörendes Dokument von Autismus. Man denkt an den Witz mit Bloch und Habermas. Sie gehen spazieren, steigern die Versuche, sich zu beeindrucken. Bloch zieht die Notbremse, zitiert ein Buch, das es gar nicht gibt. Habermas: „Kenn ich, kenn ich, hab ich gelesen.“

Nun sind Abstoßungskräfte zwischen Großmeistern ja ein bekanntes Phänomen. Jeder ein kleiner Gott, der keinen anderen neben sich dulden will. Canetti suchte Hilfe gegen den monotheistischen Panzer in Mythen und Beobachtungen. Mit einem Fleckenteppich war er zufrieden. Adorno wollte das konzentrierte Kristall. Aber in diesem Gespräch zumindest blieb es ein schimmernder Begriff wie ein Versprechen, das nicht eingelöst wird. Teddy ließ sich von den Geschichten des aufgeregten Canetti nicht aus seiner Ruhe bringen. Diese merkwürdige Ruhe des Theoretikers. „Es ist Ruhe in ihm nur, wenn er laut spricht; dann ist alles um ihn herum totenstill.“ – „Wo immer er hingreift, zieht er einen Verschworenen heraus.“ – „Die ganze Menschheit war untergegangen. Sich selbst hielt er für den einzig übrig gebliebenen, wirklichen Menschen.“ Diagnosen über eine Berufskrankheit von Intellektuellen im Schlussabschnitt in Canettis „Masse und Macht“.

Rückblende. Göttingen Mitte der 60er-Jahre. Vorbeben des antiautoritären Protestes und intellektuellen Aufbruchs bei uns Schülern, einer Protestmeute, die sich mittags nach der Schule am Gänseliesel vor dem Rathaus trifft.

Nachmittags zwischen vier und fünf zog es uns wieder in die Stadt. Wer sich zu dieser Zeit nicht bei Arko einfand, bei einer Tasse Kaffee zu 20 Pfennigen, der verpasste das Leben. Natürlich fand das Leben dort nicht statt. Aber es hätte dort stattfinden können, hätte stattfinden müssen. Täglich wurde es erwartet.

Hier sahen wir die Leute vom Jungen Theater mit sparsamen Requisiten viel versprechende Lebensstücke en suite spielen. Gralf-Edzard Habben der Bühnenbildner zum Beispiel – allein der Name – mit Günter-Grass-Bart, Gauloises oder Roth Händle rauchend. Die Schauspielerin Barbara, auch vom Jungen Theater, brachte etwas Paris an die Resopaltische im Kaffeeladen. Bald wurde sie mit ihrem Chanson „Göttingen“ berühmt. Bei Arko lernten wir, wie man Zigaretten hält, die wir einzeln für 10 Pfennige in dem Tabakladen an der Bushaltestelle kauften. Zigaretten und Kaffee, wenn das Wetter es irgend zuließ, einen Parka angezogen – drei Dinge, die wir brauchten, um aus uns Schülern Menschen zu machen.

Gralf-Edzard Habben führte die Zigarette wie Sartre zum Mund, das schaffte Intensität, da wurde Atem sichtbar. Und dabei Reden führen. Immer reden. Bei Arko konnten wir Begriffe aufschnappen, Gesten und Zeichen sammeln. Ein Zeichen war der Button mit der Rune der Atomwaffengegner. Dieses Zeichen hatte die allergrößte Faszination. Man stand augenblicklich auf der richtigen Seite der Menschheit. Wissend und rettend, das konnte nun jeder sehen.

Die richtigen Worte für unsere Selbstinitiation kamen aus Frankfurt. Kritische Theorie. Marcuse und Adorno. Hier fanden wir das Vokabular für eine Wortergreifung: „Umwälzende wahre Praxis aber hängt ab von der Unnachgiebigkeit der Theorie gegen die Bewusstlosigkeit, mit der die Gesellschaft das Denken sich verhärten lässt“ (Adorno/Horkheimer, „Dialektik der Aufklärung“).

Dass das Ganze ein Falsches sein soll, schien uns unmittelbar evident. Aber viel zu schnell verhalf uns die Adorno-Infektion zu geliehenen, großen Worten. Zu widerstandslos ließen sie sich ins Repertoire von Epigonen aufnehmen. Waren wir etwas altklugen Pennäler nicht auf der Suche nach Priestern? Unsere Praxis sollte Theorie sein. Vielleicht funktionierte die Adorno-Maschine ja am besten als heimliche, auf den Rest der Welt projizierte Selbstkritik? „Der des Jargons Kundige braucht nicht zu sagen, was er denkt, das nimmt der Jargon ihm ab […] Dass die Jargonworte, unabhängig vom Kontext wie vom begrifflichen Inhalt, klingen, wie wenn sie ein Höheres sagten, als was sie bedeuteten, wäre mit dem Terminus Aura zu bezeichnen“ (Adorno, „Jargon der Eigentlichkeit“).

1968, Studienbeginn in Frankfurt. Buchmesse. Demonstrationen. Polizeieinsatz. Teach-in. Aufregung. Reden, reden, reden. Und am Abend, es war der 23. September, im Gallus-Haus die große Diskussion über „Autoritäten und Revolution“ mit Adorno, von Friedeburg, Habermas und den SDS-Führern Hans-Jürgen Krahl und K. D. Wolff. Adorno fachsimpelte über Autorität wie ein Schullehrer; „Nicht ist in abstracto jeglicher Autorität zu opponieren.“ Der „Autoritäre Staat“, so der Titel eines Aufsatzes von Max Horkheimer, des anderen Klassikers der Frankfurter Schule, wurde nun von den neuen Autoritäten im SDS gegen die alten zitiert. Adorno sprach nur zu Anfang des Podiums, dann kein Wort mehr von ihm. (Der Wortlauf der Diskussion, eine Veranstaltung des Luchterhand-Verlages, wurde später in der Reihe „ad lectores“ abgedruckt.) Hans-Jürgen Krahl, der damals vielen von uns wie eine Reinkarnation von Adorno auf der Barrikade erschien, vollzog auf dieser Veranstaltung die Trennung mit der guten Autorität Adorno, die uns von allen anderen Autoritäten befreien sollte: „Als wir vor einem halben Jahr das Konzil belagerten, kam als einziger Professor Adorno zum Sit-in der Studenten. Er wurde mit Ovationen überschüttet, lief schnurstracks auf das Mikrofon zu und bog kurz vor dem Mikrofon ins Philosophische Seminar ab. Also kurz vor der Praxis in die Philosophie.“

Aber was galt denn als Praxis? Praxis sollte immer nur die Verwirklichung von Theorie sein, natürlich der richtigen Theorie, der einen. Praxis war nie ein Gespräch mit der Welt.

Bald überschlug sich die antiautoritäre Revolte, die sich als eine von enttäuschten Gläubigen erwies. Ganz schnell konvertierten Theoretiker zu Büchervernichtern. Aus manchem Anarchisten wurde kurz entschlossen ein Maoist, buchstabengläubig, wie die Kirchen ihre Mitglieder lange nicht mehr gesehen hatten. Vielleicht wird man diese Generation einmal als die der Konvertiten beschreiben und Adorno als einen der letzten Priester.

Trotz alledem: 1968 öffnete sich der Vorhang. Wir sahen, der Kaiser ist ohne Kleider. „Er ist nackt“, schrien wir, die rebellischen Kinder im Parkett. Für einen Moment lösten sich Masken. So manches Identitätsmäntelchen fiel. Das war die antiautoritäre Sternstunde unserer Generation. Diese Urszene der 68er machten viele von uns zu ihrem Lebenskapital. Zinsen werden immer noch ausgezahlt. Aber die Enthüllungsszene war auch erschreckend, fuhr uns offenbar tiefer in die Glieder, als wir zunächst glaubten. Wir realisierten, was die Canettis schon länger wussten: selber auch nackt zu sein. Viele von uns stürmten nun in den Fundus der Geschichte, liehen heroische Kostüme und furchteinflößende Bärte aus, klebten sich Marxbärte an, hängten sich Leninmäntel um und wagten sich ohne den Schutz eines Buchs nicht mehr ins Freie. Ohne Zitat – häufig von Adorno – wurden einige Jahre keine Sätze mehr gesprochen. Das alles aus Angst, ebenfalls nackt zu sein.

Adorno war auch so ein nackter Kaiser, der 68 entblößt wurde, und er war zugleich ein Mentor, der uns die Augen für die Nacktheit öffnete. Und er war, drittens, einer, der schon wieder vorschnell Kleider anbot. Alles zusammen machte ihn zum Buddha einer Generation.