Den Krieg plausibel erklären

Der ehemalige Pentagon-Berater Daniel Ellsberg erkennt Parallelen der US-Propaganda von Vietnam bis Irak

„Die Journalisten haben einfach keine Ahnung, wie oft sie belogen wurden“

Ein unbemanntes US-Spionageflugzeug ist über China abgeschossen worden, Verteidigungsminister Robert MacNamara soll den Fall vor der Presse klarstellen. „Wir haben genau zehn Minuten, um sechs Lügen zu fabrizieren, die er den Medien dann präsentieren kann“, erklärt MacNamaras Stellvertreter John McNaughton dem Pentagon-Berater Daniel Ellsberg, dem auf Anhieb mehrere „plausible“ Erklärungen einfallen, die er auch sofort zu Papier bringt: 1.) Es war keine unserer Drohnen. 2.) Wahrscheinlich kam sie aus Taiwan. 3.) Es war ein Versuchsflugzeug. 4.) Es war eine fliegende Wetterstation, die vom Kurs abkam … usw. „Das Lügen bereitete mir keine Probleme“, schreibt Ellsberg offenherzig in seinem neuen Buch „Secrets“, „was mich nervös machte, war die Tatsache, dass viele Behauptungen so leicht nachprüfbar waren und als unwahr entlarvt werden konnten. Aber die Journalisten, selbst die besten, hatten einfach keine Ahnung, wie oft sie belogen wurden.“

Schon an seinem ersten Arbeitstag im Pentagon, dem 4. August 1964, war Ellsberg mit einer Lüge konfrontiert worden, die von historischer Bedeutung wurde: dem Tonking-Zwischenfall. Der angebliche Beschuss des Zerstörers „Maddox“ durch nordvietnamesische Torpedos, von US-Geheimdiensten erfunden, führte zu Kongressresolutionen, die Präsident Johnson weitgehende Vollmachten für Bombenangriffe auf Nordvietnam einräumten und einer Kriegserklärung gleichkamen.

Die Mechanismen von Täuschung, Geheimniskrämerei und Eskalation der Militärmaschinerie sieht Daniel Ellsberg auch in der Irakkrise wieder am Werk. In Interviews wies er kürzlich zudem auf Parallelen zum US-Engagement in Vietnam hin: Die geplante Intervention für den Aufbau demokratischer Strukturen sei eine absolut lächerliche Begründung. So habe man damals auch argumentiert.

Er habe als Vietnam-Experte viel zu lange gebraucht, um zu erkennen, welch ein hoffnungsloser Fall das amerikanische Vietnam-Abenteuer war, bekannte Ellsberg selbstkritisch. „Diesmal ist alles noch schlimmer, weil es sich beim geplanten Angriff auf den Irak um einen Präventivkrieg handelt, der kriminell wäre und ein Verbrechen gegen den Frieden darstellen würde. Natürlich ist Saddam ein Diktator, der vielleicht Massenvernichtungswaffen besitzt. Aber Stalin und Mao hatten auch solche Waffen, und Kim Jong Il besitzt sie auch.“

Nicht nur das fehlende Geschichtsbewusstsein amerikanischer Politiker und Militärs hatte laut Ellsberg zu grotesken Fehlentscheidungen geführt, die sich nahtlos an die französische Kolonialzeit anschlossen. Eine Hierarchie, die sich am Wunschdenken der Entscheidungsträger orientierte und nicht wagte, abweichende, kritische Meinungen oder Proteste zu äußern, musste zwangsläufig auf Lügen, Vertuschen und Geheimniskrämerei zurückgreifen, um nicht den Anschein zu erwecken, versagt zu haben. Schon während seines ersten Vietnam-Trips im Herbst 1961, als er die politischen und militärischen Fortschritte der Amerikaner in Vietnam analysieren sollte, nahm er einen „Geruch von Fäulnis und völligem Versagen“ über all den Akten, Berichten und frisierten Prognosen wahr. Doch es dauerte noch fast zehn Jahre, bis aus dem dezidierten Kalten Krieger ein Pazifist werden sollte.

Ellsberg war für Nixon und andere unbelehrbare Bellizisten so gefährlich, weil er öffentlich glaubwürdig war: Er war ja nicht nur ein brillanter Harvard-Absolvent, sondern auch Kommandeur bei den Marines. Im Gegensatz zu seinen Kollegen hatte er sich während seines zweijährigen Vietnam-Aufenthaltes mehrmals mit den Soldaten ins Schlachtgetümmel gestürzt, um sich ein realistisches Bild der Lage vor Ort zu machen.

Selbstkritisch und nachdenklich wird er bei einem Einsatz Anfang 1967, als er mit einer Kompanie durch ein Reisfeld marschiert und von einem etwa 14-Jährigen, mit einer AK 47 bewaffneten Jungen unter Beschuss genommen wird. Da dämmerte es ihm, dass die Amerikaner in Vietnam nichts zu suchen hatten und diesen Krieg auch nie gewinnen konnten. Doch die Frage „Mit welchem Recht kämpfen wir hier eigentlich?“ war damals ein Tabuthema. Denn der gedankenlose Automatismus, der alle wichtigen Entscheidungsprozesse beeinflusste und seit Eisenhower und McCarthys Hetzjagd auf Kommunisten vom militärisch-politischen Establishment als unumstößliche Weisheit nachgebetet wurde, lautete: „Wir dürfen Vietnam nicht verlieren, weil wir sonst im Kampf gegen den weltweit expandierenden Bolschewismus unglaubwürdig wären.“ Dieser Logik folgte sogar Präsident John F. Kennedy.

Heute soll statt der roten oder der gelben Gefahr der islamistische Terror erfolgreich bekämpft werden. Mit ähnlicher Gedankenlosigkeit wie damals in Vietnam will man sich, so Ellsberg, in ein Abenteuer stürzen, ohne langfristige Perspektiven entwickelt zu haben.

Ellsberg entwirft dementsprechend das Szenario eines aktuellen Tonking-Zwischenfalls: „Ich glaube, Rumsfeld und Cheney setzen unsere Truppen als Köder ein, um einen irakischen Angriff zu provozieren und dann genau wie Johnson damals behaupten zu können, dass er nur den Schutz amerikanischer Soldaten gewährleisten wollte. Er möchte gern sagen können: Ich bombardiere den Irak, weil wir Informationenen darüber haben, dass Amerikaner jetzt unmittelbar gefährdet sind.“

Daniel Ellsberg: „Secrets. A Memoir of Vietnam and the Pentagon Papers“, Viking Verlag, New York 2002, 498 Seiten, 29,95 Dollar