Droht ein neuer Erster Weltkrieg?

Das deutsche Großfeuilleton schlägt schrille Töne an: Kanzler Schröder sei wie Kaiser Wilhelm II.

Endlich hat Gerhard Schröder erreicht, was er immer wollte. Vor vier Jahren bekannte sich der frisch gewählte Kanzler zum Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses – und wurde prompt gefragt, ob man ihn fortan als Kaiser Wilhelm III. titulieren dürfe. Statt den Vergleich zurückzuweisen, stimmte Schröder lachend ein: „So kann man das nennen. Das wäre doch nicht so schlecht.“

Jetzt endlich haben es auch andere erkannt. Nicht nur der bayerische Ministerpräsident, sondern auch die Feuilletons zweier großer Tageszeitungen glauben, in der Gestalt Gerhard Schröders kehre der letzte deutsche Kaiser auf die politische Bühne zurück. Da wird Schröders populärer Widerstand gegen die amerikanische Irakpolitik mit der antienglischen Flottenrüstung Wilhelms II. verglichen. Und Schröders Blauhelm-Plausch mit Spiegel-Journalisten gilt als Neuauflage der fatalen Daily-Telegraph-Affäre, die das Vertrauen in die kaiserliche Außenpolitik endgültig ruinierte.

Der Tonfall der Kritik ist so schrill wie letzten November, als eines der beiden Blätter die Bürger „auf die Barrikaden“ rief. Aber die Historisierung der Gegenwart schreitet rapide voran: Wurde der Zustand der Bundesrepublik im Spätherbst noch mit der Endphase der Weimarer Republik verglichen, so ist das Land inzwischen am Vorabend des Ersten Weltkriegs angekommen.

Doch in beiden Fällen sind es vor allem die Untergangspropheten selbst, die herbeischreiben, wovor sie angeblich warnen wollen. In der Süddeutschen Zeitung weist Gustav Seibt immerhin darauf hin, wie sehr schon im Kaiserreich die verhängnisvolle Entwicklung zum Ersten Weltkrieg „von einer oft kaiserkritischen Öffentlichkeit“ vorangetrieben wurde.

Als wahre Wilhelministen erweisen sich die Kritiker des Kanzlers auch in ihrer Fixierung auf die großen Männer, die angeblich Geschichte machen. Aber schon zu Beginn des vorigen Jahrhunderts war der Kaiser keineswegs „an allem schuld“, wie der Historiker Wolfgang Mommsen in einem neuen Buch betont. In demokratischen Zeiten gilt das um so mehr. Nicht Gerhard Schröder ist es, der Deutschland und Amerika auseinander gebracht hat. Es ist die veränderte weltpolitische Lage nach dem Ende des Kalten Krieges. Seit dem Untergang der Sowjetunion und mehr noch seit dem 11. September 2001 fehlt der Nato das gemeinsame Interesse.

Als Gerhard Schröder dem Spiegel jetzt vom angeblichen Friedensplan für den Irak berichtete und damit die deutsche, französische und amerikanische Regierung gleichermaßen brüskierte, bewies er gewiss kein großes diplomatisches Geschick. Aber Feuilletonisten geben gern der Neigung nach, die Form wichtiger zu nehmen als den Inhalt. In der wirklichen Welt der Politik jedoch macht es durchaus einen Unterschied, ob ein Politiker auf einen Krieg zusteuert oder ihn gerade verhindern will – und ob er mit seiner Position allein steht oder gewichtige Länder wie Frankreich und Russland auf seiner Seite hat.

„Rücktritt in schwieriger Lage wäre Flucht aus der Verantwortung“, sagt Schröder in der heutigen Ausgabe des Sterns. „Dazu neige ich nicht.“ Wäre Schröder tatsächlich Wilhelm III., müsste er bei einem Scheitern seiner Irakpolitik abdanken und am Kamin des Kanzleramts den Satz eingravieren lassen: „Ich habe es nicht gewollt.“

RALPH BOLLMANN