Rare Funde

„Morning Sun“ von Carma Hinton, Geremie Barmé, Richard Gordon im Forum dokumentiert taktvoll und genau die chinesische Kulturrevolution

von CHRISTIAN SEMLER

Aus welcher Perspektive kann man, sollte man die „Große Proletarische Kulturrevolution“ betrachten, die Chinas Grundfesten in den Jahren 1966 bis 1976 erschütterte? Aus dem Blickwinkel der Opfer? Dann war es eine finstere Epoche faschistischer Massenmobilisierung unter der Leitung des großen, grausamen Kaisers Mao. Mit den Augen des zeitweilig entmachteten kommunistischen Parteiapparats? Dann war es ein linksradikaler Exzess, der Chinas sozialistischer Modernisierung zehn kostbare Jahre und die Partei abertausende der Revolution ergebener Kader kostete. Oder aus der Sicht der enthusiastischen, jugendlichen Täter, die, mit der roten Sonne im Herzen, in Siebenmeilenstiefeln auf die kommunistische Utopie losmarschieren wollten? Dann ist es die Geschichte hoch gespannter Hoffnungen, radikaler Brüche, tiefer Desillusion, später Reue – und manchmal eines demokratischen Neuanfangs.

Alle drei Geschichten sind schon oft erzählt worden, schriftlich, in der Form der „Literatur der Wunden“. Jetzt haben zwei Filmemacher und ein Professor sich zusammengetan, fünf Jahre lang Material gesammelt, mit Tätern wie Opfern Gespräche unter oft schwierigen Bedingungen geführt. Sie haben mit „Morning Sun“ einen Dokumentarfilm vorgelegt, der sich in die „verlorene Generation“ der Kulturrevolutionäre einfühlt, ohne den Schrecken dieser Jahre zu verharmlosen. Ein beeindruckendes Dokument, fern jedes Moralisierens aus historischer Distanz.

Als Erstes gilt es, das dokumentierte Material zu würdigen. Selbst offizielle zeitgenössische Filmberichte sind heute in China weitgehend sekretiert. Nimmt man die Parteiseite, so war beispielsweise der kulturrevolutionäre 9. Parteitag der KP Chinas noch nie in längeren Sequenzen zu sehen. Wo immer Maos treuester Gefolgsmann Lin Biao, der spätere „Verräter“, auftauchte, wurde geschnitten oder gelöscht. Auch die Dokumentation der berühmten Parteikonferenz auf dem Lushan im Juli 1959, wo Mao erfolgreich die Kritiker seines „Großen Sprungs nach vorn“ als Rechtsopportunisten brandmarkte und damit der späteren Kulturrevolution den Weg bereitete, war zumindest dem Rezensenten bislang unbekannt. Neu sind auch zahlreiche Dokumente über die Aktivitäten der Rotgardisten, so ihr dem „Langen Marsch“ nachempfundene Pilgerreise, das Fotoarchiv eines Bildjournalisten oder private Fotos der jugendlichen Akteure. Es gelang den Dokumentaristen sogar, aus der Provinz, nämlich dem mandschurischen Charbin, Fotomaterial zu den Kämpfen der verschiedenen kulturrevolutionären Fraktionen aufzutreiben – ein rarer Fund, der uns nahe bringt, zu welchem Ende brachiale Selbstgewissheit führt.

Als Zweites wäre die Dramaturgie des Films zu rühmen. Sie konzentriert sich auf wenige Täter und Opfer, untermauert dokumentarisch deren Aussagen, verfährt taktvoll, aber genau. Wir werden Zeugen von Familientragödien, wo die Tochter den als revisionistischen Machthaber „entlarvten“ Vater, den ehemaligen Privatsekretär Maos, verleugnet, ihn dennoch Vater nennt und sich nachträglich und öffentlich dessen schämt. Die Tochter ist mittlerweile aus der KP ausgetreten, der Vater, rüstig und erstaunlich wenig verbittert, streitet heute für Chinas Demokratisierung. Aber Geschichten mit Happy End sind rar – auch in „Morning Sun“.

Leitmotivisch bringen die Dokumentaristen den russischen Roman „Die Stechmücke“ samt der sowjetischer Verfilmung ein, ein Werk, dessen sentimental-heroische Tendenz eine ungeheure Wirkung auf die chinesische Jugend der Sechzigerjahre ausgeübt haben muss. Ganz so wie Tschernyschewskis „Was tun?“ die russischen jugendlichen Revolutionäre in der späten Zarenzeit begeistert hatte. Wobei die Filmemacher unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, dass die enttäuschten Rotgardisten später in der Figur des verräterischen Kardinals der „Stechmücke“ Mao selbst erkannten.

Wie lässt sich die Grundtendenz der Dokumentation zusammenfassen? Am besten mit den Worten des Historikers Jonathan J. Spence, der die Filmer beriet: „Unterdrückung und das Bewusstsein der eigenen Ohnmacht hatte die Jugend zornig gemacht und so befolgten sie gierig die Weisung, alle Zurückhaltung fahren zu lassen und suchten sich diejenigen als Zielscheibe aus, denen sie die Schuld an ihrem beengten Dasein gaben.“ So betrachtet, ist Maos Satz „Rebellion ist gerechtfertigt“ vielleicht doch nicht gänzlich anachronistisch.

Heute, 19.45 Uhr, Babylon