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: Ratgeber nach Pisa: Kann man lesen lernen?

„Schnarch! Chrrr! Ratzepüh!“

In Niedersachsen und sogar im Bundesrat liegen jetzt ja die Konservativen vorn. Werden unsere Kinder nun also endlich besser lesen lernen? Wird eine erziehungswillige bürgerliche Wählermehrheit zusammen mit zahlungswilligen Bildungspolitikern erzwingen, dass Deutschlands Kinder die Schlüsselqualifikation Nummer eins so selbstverständlich erlernen wie, sagen wir: Fahrrad fahren und SMS verschicken?

Man möchte es ernsthaft wünschen. Schon damit einem Pisa nicht mehr im Nacken sitzt. Es ist nämlich praktisch unmöglich geworden, über Kinderbücher zu reden, ohne gleich Pisa mitzudenken. Harry Potter? Ist schon deshalb gut, weil es die Kinder zum Lesen bringt, lautet eine Standardfloskel von Lehrern und Eltern. Wer Kinder hat, die nicht so gerne lesen mögen, hat dagegen wenig zu lachen. Ihr Kind liest keine Bücher? Wie asozial!

Pisa ist überall. Selbst wo Kinderbuch draufsteht, ist am Ende Pisa drin. Auch der Literaturratgeber für Kinderbücher von Susanne Gaschke, ein praktischer Wegweiser durch die Klassiker von Robinson Crusoe bis Paddington, von Michael Ende bis Cornelia Funke, schafft es nicht, dieses reflexartige Rumfuchteln mit den magischen vier Buchstaben einfach bleiben zu lassen. Merkwürdig eigentlich, denn in dem Buch wird das Lesen keineswegs als Übung, sondern als großes Abenteuer beschrieben. Nur die Risiken solcher Abenteuer sind der Autorin offenbar unheimlich – sie empfiehlt vor allem Bewährtes. Mit diesem real existierenden Kanon der Kinder- und Jugendliteratur kann man sich gut orientieren und macht nichts falsch.

Trotzdem ist es mir fremd, beim Lesen so auf Nummer Sicher zu gehen. Dieses Kribbeln, das ich verspüre, wenn ich beim Stöbern ein Buch entdeckt habe, steht für mich ganz am Anfang aller Leselust. Und ich denke, dass es auch den Kindern vielleicht so geht. Ich kenne ein Mädchen, das ist neun Jahre alt und kauft sich gerne bei der Tanke nebenan von ihrem Taschengeld ein „Lustiges Taschenbuch“ – einen halben Monatslohn gibt sie für ein Donald-Duck-Heft aus. Ich kann diesen Hefte wenig abgewinnen. Aber dass das Mädchen selber entdeckt hat, was ihm gefällt und wo es das Gewünschte kriegt, finde ich gut.

Wenn es nach mir ginge, müssten überall, wo Kinder sind, vor allem aber in den Schulen, Bücher rumliegen, die man einfach mal in die Hand nehmen kann. Aber aus der Schule bringen die Kinder keine Bücher, sondern kistenweise schlecht kopierte Zettel mit nach Hause. Zwar wissen die meisten Grundschüler schon, was eine Suchmaschine ist, aber von einem Schlagwortkatalog haben selbst Achtklässler noch nie etwas gehört. Die Schülerbibliothek – die es viel öfter gibt, als man ahnt – ist sowieso die meiste Zeit geschlossen. Es könnte ja was geklaut werden. So werden die Bücher vor ihren jungen Lesern beschützt.

Dabei ist es so einfach, Lust aufs Lesen zu kriegen. In meinem Stammbuchladen, zum Beispiel, liegen Kinderbücher neben den Neuerscheinungen für Erwachsene auf dem prominentesten Platz vor der Kasse aus. Während man also wartet, um zu bezahlen, bleibt der Blick immer auch an irgendwelchen Kinderbüchern hängen. „Das Orchester zieht sich an“ lag neulich dort. Es erzählt in witzigen Zeichnungen davon, wie einhundertundfünf Menschen sich für die Arbeit anziehen: Sie zupfen an Fliegen, ziehen an Netzstrümpfen und kämpfen mit dem Frack, bevor sie mit ihren Geigen oder Klarinetten zur Philharmonie fahren. So ein Buch kann ich schwer mit Pisa in Zusammenhang bringen. Das war einfach Liebe auf den ersten Blick. ANGELIKA OHLAND

Susanne Gaschke: „Hexen, Hobbits und Piraten. Die besten Bücher für Kinder“. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart, München 2002, 304 S., 19,90 €Ľ„Walt Disney’s Lustiges Taschenbuch“. Egmont Ehapa, Leinfelden-Echterdingen, 3,95 € pro HeftKarla Kuskin: „Das Orchester zieht sich an“. Mit Illustrationen von Marc Simont. Hanser, München 2002, 11,90 €Ľ„jugend liest“ wird von nun an die Kolumnen „hörhilfe“, „crime scene“, „bücher für randgruppen“ und „theorie und technik“ ergänzen