Mission auf der Schutthalde

Wenn ich unten bin und alt: Armin Petras hat am Schauspielhaus Leipzig „Sterne über Mansfeld“ inszeniert. Im Schnelldurchgang durchpflügt der Regisseur darin das Jammertal der Gegenwart

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Es gibt Gegenden in Deutschland, da liegen die Metaphern rum wie reife Pflaumen. Im Mansfelder Land zum Beispiel. „Überall Schutt und unter dem Schutt Löcher. Oben Dreck und unten nichts“, sagt Thomas, der billig ein Grundstück da erworben hat, wo achthundert Jahre lang Kupfer abgebaut wurde. Thomas, ehemals Rockmusiker, heute Versicherungsvertreter, wollte dort eine Gokartbahn bauen. Geht aber nicht, weil das Gelände über einem blinden Stollen einsturzgefährdet ist. Damit weiß man so ziemlich alles, was es über die Zukunftsaussichten im Mansfelder Land, im abgewickelten Industriegebiet Mitteldeutschlands, zu wissen gibt.

Fritz Kater nennt sich der Autor, der solche Metaphern sammelt. Sie nehmen in seinem Theaterstück „Sterne über Mansfeld“ wahrhaft historische Ausmaße an. 800 Jahre Bergbau, 500 Jahre Protestantismus, 45 Jahre Sozialismus: Und alles, was geblieben ist, sind Löcher und Fehlstellen. Armin Petras ist der Regisseur, der solche wahrhaft historischen Ausmaße bei der Uraufführung im Schauspielhaus Leipzig wie der Blitz zerbröselt. Fritz Kater ist ein Pseudonym von Petras, an dem er wohl mit Bedacht festhält. Denn der eine darf leiden und seine Ostdepression pflegen, wo der andere Witze reißt und schnell die Ebene wechselt. Im schnellen Vorlauf pflügt Petras durch Szenen der Klage: So wenig blieb von der Zeit, als Rockmusik noch Widerstand versprach. Die Poesie und das Schürfen in der Tiefe aber, das die Beschäftigung mit der Vergangenheit des Bergbaus immer nahe legt, behaupten sich dennoch gegen die Fröhlichkeit der Soap an der Oberfläche.

Es gibt immer einen Moment, da sehen sich die Figuren als Verlierer: der Geschichte, des Fortschritts, der fehlenden Liebe und des fehlenden Glaubens. Aber gleich wird das wieder beiseite gewischt. Bloß nicht peinlich werden. „Bin ich peinlich?“, fragt der Polizist Christian Janica, seine Nichte, die er ermutigen will, in Berlin Kunst zu studieren, und jetzt so schattenhaft liebt wie vorher ihre Mutter.

Wo die Gefühle zu groß werden für die von hohen Wänden umstellte Bühne, nimmt man schnell ein Lied von Johnny Cash zur Hilfe. Klingt auf Deutsch fast wie selbst gemacht: „Würdest du mit mir schlafen in einem Feld aus Steinen. Würdest du mich noch lieben, wenn ich unten bin und alt.“

Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, wie hartnäckig die Ortsangabe „Ostdeutschland“ noch immer so viel mehr ist als Geografie. Kater/Petras verfolgt mit tapferer Ironie, wie das Vergangene im Gegenwärtigen noch wächst. Gehen oder bleiben, das war und ist wieder die Frage im stillgelegten Land. Gekommen ist nur einer, diesmal kein Investor, sondern ein Pfarrer. „Dieses tausendjährige christliche Land ist jetzt selbst Missionsgebiet geworden wie Taiwan, Japan, Nigeria, Laos“, sagt er. Er sieht in seinem Umhang aus wie Dracula. Mit Benjamin, dem alten Parteiarbeiter im Rollstuhl, treibt er vergleichende Geschichte. Aber eigentlich ist beiden das Rauchen wichtiger als Gott und Stalin, Religion oder Ideologie.

Ein Chor von älteren Damen begleitet das Stück. Sie malen blühende Bäumchen an die Wände und basteln unverkäufliche Trockenblumenkränze. Den Kalauer dazu denkt man sich: dass sich von den „blühenden Landschaften“ nicht mal die Souvenirs verkaufen lassen. Dennoch sind die Kränze praktisch, denn am Ende gibt es mehrere Tote. Die sind ein wenig aus Liebe gestorben, wie Christian, und ein wenig aus Verzweiflung, wie Benjamin, aber ganz einleuchtend ist das eine und das andere nicht. Denn den Biografien ist ebenso wie dem Stück selbst tragische Größe und dramaturgische Notwendigkeit abhanden gekommen. Die Figuren scheitern ein bisschen und langweilen sich viel. Das Publikum hingegen langweilt sich kein bisschen, so schnell und voller Überraschungen wird erzählt.

Am Ende hat das Stück so viele mögliche Schlussszenen gehabt, für jedes Genre ein Ende, dass man etwas taumelnd in diesem Tanz der Gattungen den Überblick verliert. Such ich mir das jetzt aus, Versöhnung oder Katastrophe, Aufbruch nach London oder Schulden abzahlen in Mansfeld auf ewig? Nein, doch nicht, es scheint, als wären sich Autor und Regisseur am Ende einig, auch wenn es ihnen Leid tut: Nichts mehr außer den Schuttbergen der Vergangenheit in Sicht. Wir haben es ja versucht, das eine oder andere Szenario entwickelt, so deuten die Enden an, aber leider … Noch rollt alles bergab, wie Benjamin am Anfang sagt, der Ball, der Stein, das Rad der Geschichte. Zu viele Metaphern, die wirklich werden.