Ohne Abendbrot zu Bett

Moskau ist fern und das Leben nicht mehr als ein unnützer Gebrauchsgegenstand. Am Ende bleibt nur das große Schweigen: Michael Thalheimer inszeniert Anton Tschechows „Drei Schwestern“ am Deutschen Theater in Berlin

Bei Thalheimerbleibt von den„Drei Schwestern“ nurdie totale Superkrise

Der Samowar zerbricht gleich in der ersten Szene. Der Arzt Tschebutykin hat ihn Irina zu ihrem Namenstag mitgebracht, und das Geschenk steht mit Absicht am Anfang der „Drei Schwestern“. In der russischen Provinzstadt ist das Leben so einförmig, dass man nicht nur immer wieder die gleichen Gespräche führt, sondern sich an Festtagen eben auch mit nicht gerade originellen Gebrauchsgegenständen beglücken muss.

Moskau ist fern und das Leben zum Heulen: In Tschechows Drama lässt der zur Weinerlichkeit neigende Tschebutykin das Geschenk unter Tränen diskret in einer Ecke des Salons verschwinden und berappelt sich dann angesichts der Tatsache, dass es Piroggen zum Abendessen geben wird. In Michael Thalheimers Inszenierung der „Drei Schwestern“ am Deutschen Theater dagegen schmeißt er den Samowar in einem Wutausbruch auf den Boden, die Piroggen sind gestrichen, und fortan ist von Russland auf der Bühne nichts mehr zu sehen.

Michael Thalheimer setzt offenbar sein Programm fort, klassische Werke von mutmaßlich unnützem Ballast zu befreien und so ihren Kern freizulegen. Seine zurechtgestutzte Fassung der „Emilia Galotti“ war ein großer Erfolg, und so ist die Stimmung im Foyer an diesem Abend durchaus erregt zu nennen: Die älteren Damen mit den Premieren-Abos diskutieren eifrig, ob hier jemand, „Castorf links überholen“ wolle. „Na, da bin ick jetze aba jespannt“, verkündet eine von ihnen, und allein die Mischung aus Hoffnung, Skepsis und Schicksalsgläubigkeit, die in diesem Stoßseufzer mitklingt, würde sie schon zu einer Figur Tschechows machen.

Rund um die Frage, ob sie es jemals aus der Provinz „nach Moskau“ schaffen werden, tun Irina, Mascha und Olga in den „Drei Schwestern“ nichts anderes, als ihre Bewegungsfreiheit innerhalb der Zwangslage „Leben“ kommunikativ auszuloten: Ihre Gesprächsbeiträge changieren zwischen Euphorie, Gleichgültigkeit und Verzweiflung.

Die Gemeinheit Tschechows besteht darin, diese Bewegung nicht wie in einem klassischen Drama im fünften Akt mit dem Tod zu beschließen, sondern sein Stück nach dem vierten Akt mit dem Leben zu beenden – in gleichen Ausweglosigkeit, mit der es angefangen hat. Diese zirkuläre Bewegung hat auch Michael Thalheimer erkannt: Auf einer sich beständig drehenden Bühne lässt er seine Schauspieler unermüdlich von einem Raum in den nächsten eilen. Wie in einer endlosen Kamerafahrt gleitet man durch die einzelnen Szenen, die Thalheimer von der angenehmen melancholischen Geschwätzigkeit befreit hat, die die Tschechow-Inszenierungen der alten Schaubühne beispielsweise so elegisch gefeiert hatten.

Im Deutschen Theater des Jahres 2003 bleibt von den „Drei Schwestern“ nur die totale Superkrise: Anika Mauer, Isabel Schosnig und Regine Zimmermann schreien als Olga, Mascha und Irina entweder genervt herum oder starren verzweifelt ins Leere, während die Männer in ihrer Umgebung sich streiten, betrinken oder schlagen. Und auf den kahlen, hohen Wänden ist so viel Platz für Projektionen, dass man geradezu erleichtert ist, als schließlich ein grobkörniger Super-Acht-Film darauf zu sehen ist. Kinder spielen im Schnee, toben im Schlafanzug und zuzzeln Spaghettis. Speist sich die verzweifelte Hoffnung auf ein besseres Leben in Moskau oder anderswo allein aus der Erinnerung an die Kindheit, als man das Leben noch nicht permanent in Frage stellen musste?

Das ist natürlich wahnsinnig kitschig, hilft Michael Thalheimer aber bei seiner verbissenen Beweisführung, dass der sanfte Weltschmerz ins Kino gehört, das Theater dagegen für die harten Seiten der Melancholie zuständig ist. Klapp, klapp, fällt die letzte Wand. Im leeren Bühnenraum wird der letzte Akt ohne Worte gespielt, als Pantomime aus müden Gesten: Wenn man in einem Drama von Tschechow den Kern freilegt, bleibt nur ein Schweigen.

Doch was im gleißenden Licht des Schlussbildes zunächst wie ein Erkenntnisgewinn erscheint, ist nichts anderes als das, was man zu Beginn schon vor dem ersten so genannten Regieeinfall geahnt hat: Das Leben ist nur ein unnützer Gebrauchsgegenstand, ein Verlegenheitsgeschenk wie ein Samowar, der irgendwo in einer russischen Provinzstadt überreicht wird. Den Samowar angesichts dieser Tatsache zu zerschlagen, ist keine analytische Leistung, sondern eine Verzweiflungstat.

KOLJA MENSING