Der ewige Stenz der Vorstädte

Weil ein Cockney immer ein Cockney bleibt: Michael Caine, erster Working Class Hero und Ahnherr der Lad-Kultur, wird siebzig. Mit Rollen in Filmen wie „Alfie“ oder „The Italian Job“ wurde er zum Oscar-nominierten Star, obwohl man in England die von ihm verkörperten Misfits nicht mochte. Ein Porträt

von CHRISTIAN SEIDL

Auf dem Höhepunkt seines Ruhmes, in den frühen Achtzigern, widmete ihm die coolste Band des Landes einen Hit. Wie praktisch immer in seinem Leben lagen auch da Triumph und Niederlage nah beieinander: Denn zeitgleich zu „Michael Caine“ von Madness brachte das Mädchentrio Bananarama eine Single mit dem Titel „Robert de Niro is Waiting“ heraus, und sie stieg um einen Platz höher in die britischen Charts ein.

So bemerkenswert diese Koinzidenz gewesen sein mag, so wenig stellte sich die Frage, wer der populärere Schauspieler war. Schon gar nicht in England. Bestimmt gab es bessere und auch ein paar erfolgreichere. Michael Caine aber schaffte es, mit seinen Filmen, seiner Person, seinem Leben zum Teil des kulturellen Gedächtnisses zu werden. Manches davon hat sich bereits verselbstständigt, wie der Satz „You were only supposed to blow the bloody doors off“ – die heute gängige Umschreibung dafür, dass jemand über sein Ziel hinausgeschossen ist. Michael Caine sagte diesen Satz 1969 in „The Italian Job“.

Seinerzeit hatte ein solcher Spruch noch etwas Anrüchiges. Und sein Urheber galt in der britischen Öffentlichkeit als misfit. Die Karriere des Satzes steht im Grunde für die Karriere des Mannes – und die stellt nicht weniger dar als eine Revolution: den Sieg über das System. „Ich bin mit mir im Reinen, denn ich musste nie eine Lüge leben“, sagte er einmal. Als ihn die Queen im Jahr 2000 zum Sir adelte, bemerkte er: „Ich spielte nie einen Sir. Ich glaube, ich wurde zum Sir, weil ich stets Leute spielte, die keine Sirs waren. Das ist der ganze Witz.“

Im Grunde befolgte er dabei nur den Rat seines Vaters, der ihm früh klar machte: „Glaub nicht, dass du was anderes sein kannst als das, was du bist. Ein Cockney bleibt immer ein Cockney.“ Nicht, dass seinerzeit auch nur im Entferntesten daran zu denken war, dass dies der Junge dereinst auf der Filmleinwand würde vorführen dürfen. Für einen Arbeiterburschen aus dem Londoner Süden, der Gegend um den Bahnhof Elephant & Castle, blieb die Welt jenseits des Billingsgate-Fischmarkts, wo der Vater für drei Pfund die Woche Kisten schleppte, verschlossen. Bildung, Benimm und andere Erfordernisse für ein halbwegs bürgerliches Leben waren Privilegien der upper class. Selbst durch den Spielplatz, der an ein besseres Viertel grenzte, verlief eine Linie, welche die Kinder nach Klassen trennte. So waren die Regeln, und man nahm sie klaglos hin.

Michael Caine, geboren am 14. März 1933 als Maurice Micklewhite, wollte sich diesem Schicksal nicht fügen. Der Junge interessierte sich für Literatur und Theater, schwänzte den Sportunterricht, um ins Kino zu gehen, und als eine Kleinkunstbühne in Horsham per Aushang einen Kulissenschieber suchte, schmiss er seine Lehrstelle bei der Post. Sein Berufsziel: Schauspieler.

Doch einer mit seiner Herkunft, seinem Akzent und seiner groben Erscheinung war im britischen Film unvermittelbar. Auch als er 1962 für das Afrika-Epos „Zulu“ vorsprach, machte er sich wenig Illusionen. Der Hauptdarsteller und Produzent Stanley Baker fand überraschend Gefallen an dem Jungen – und bot ihm den Part des smarten Leutnants Bromhead an. Also zog Caine sich einen schmucken Rotrock an, verschränkte die Arme hinter dem Rücken wie Seine Majestät Prinz Philip und stahl allen die Schau. Der Film war längst ein Kassenknüller, als herauskam, wer Bromhead war: „Ein Lad vom Elephant & Castle – eine Sensation“, schrieben die Zeitungen. Ein Star war geboren. Der erste echte working class hero.

Der Flurschaden, den Caine als Bromhead anrichtete, war immens – denn er lieferte gleich in mehrfacher Hinsicht den Beweis dafür, dass die herrschende Klasse ihre Macht aus ein paar albernen und umso heftiger verteidigten Insignien bezog. Danach war nichts mehr wie zuvor. Umso weniger, als es sich der Mann nun zur Aufgabe machte, seinesgleichen für all die Jahre der Demütigung zu entschädigen – indem er sie in den Mittelpunkt seines Schaffens stellte.

„Es gab im Kino, wenn überhaupt, nur diesen romantischen, verkitschten Blick auf das Arbeitermilieu“, sagte er einmal. „Ich wollte die Leute so darstellen, wie sie wirklich sind. Die Jungs, die ich kannte, waren keine doofen, gutmütigen Jammerlappen, die ständig vor irgendwem den Hut ziehen, sondern Burschen, die denken und zulangen konnten.“

So etablierte er einen völlig neuen Typus auf der Kinoleinwand: einen Antihelden aus dem Volk, der dem Schicksal zwar manches Schnippchen schlägt, letztlich jedoch immer darin gefangen bleibt. Als Vorstadt-Stenz in „Alfie“, dem zwar jede Frau ins Bett folgt, dem sonst aber wenig gelingt. Als Kleingangster in „The Italian Job“, wo er einen perfekten Millionenraub auszuklügeln glaubt, in Wirklichkeit jedoch nur als Handlanger für die Mafia missbraucht wird. Oder in „Get Carter“ als Londoner Profikiller, der ins graue Newcastle reist, um seinen Bruder zu begraben – dort aber feststellen muss, dass dieser ermordet und das Ganze nur inszeniert wurde, weil er selbst dran glauben soll. Bei all dem sah er klasse aus. „Michael Caine“, schrieb ein Kritiker, „machte das Gewöhnliche sexy.“

Und so den Weg frei für Oliver Reed und Bob Hoskins, für Robert Carlyle und Ewan McGregor, mithin für das britische Kino, wie wir es heute kennen. Auch spätere Drehbuch-Missgriffe konnten daran nichts ändern. Zumal er bis heute betont, dass er das Filmemachen als Job versteht und nicht als Kunst. Ob die Regisseure Huston hießen oder Mankiewicz, Sturges oder Stone, Aldrich oder Allen, war eher zweitrangig. Caine war keiner, der in seiner Rolle aufging, die Rolle ging eher in ihm auf; selbst vermeintlich untypische Figuren wie zuletzt den Abtreibungsarzt in „Cider House Rules“ oder den alternden Kriegskorrespondenten in „The Quiet American“ glich er irgendwie seinem Wesen an, seinen Erfahrungen, seinem Leben. Er sagt: „Ich war mein halbes Leben lang ein Verlierer, und auch wenn ich nun schon genauso lang ein Gewinner bin, kann ich nicht einfach eine Hälfte aus meinem Leben tilgen.“

Für „The Quiet American“ ist er in diesem Jahr, zum mittlerweile vierten Mal, im Oscar-Rennen um die beste Hauptrolle. Und er wird den Award wieder nicht bekommen. Aber das macht nichts. Sein Sieg steht längst fest. Und es ist ein viel größerer. Heute, zum Siebzigsten, sollte auf alle Fälle jeder Radiosender mit etwas Selbstachtung mindestens einmal „Michael Caine“ von Madness auflegen, diesen wunderbaren Song, den es ohne ihn ja nicht gegeben hätte. Weil es Madness nicht gegeben hätte.