Candlelight vor dem Dinner

Damit hatten selbst die größten Optimisten nicht gerechnet. Über 100.000 Berliner kamen am Samstag zur Lichterkette gegen den drohenden Irakkrieg. Um Punkt acht schloss sich die Kette auf 35 Kilometern. Eindrücke aus Mitte und Lichtenberg

von LUCIA JAY
und CHRISTOPH TITZ

Die Organisatoren an der Ecke Friedrichstraße müssen ein Startsignal gegeben haben. In einer Wellenbewegung treten die Menschen in Zweier- und Dreierreihen auf die nördliche Fahrbahn Unter den Linden, in den Händen halten sie Taschenlampen, Teelichter, mit Alufolie oder Papier umwickelte Kerzen, Kerzen in aufgeschnittenen Plastikflaschen oder Gläsern. Es ist 20 Uhr und vollbracht. Die 35 Kilometer lange Lichterkette von Charlottenburg nach Hellersdorf ist geschlossen.

Noch eine halbe Stunde vorher hatte es nicht so ausgesehen. Nur vereinzelt laufen Kerzenträger Unter den Linden, und wenn, dann gehen sie in Richtung Brandenburger Tor. Noch schlechter sieht es in den Randbezirken aus. In Lichtenberg rauschen die Autos die Frankfurter Allee entlang. Ein Mann mit Lederschirmmütze, um die 50 wird er sein, steht an der Kreuzung am U-Bahnhof Frankfurter Allee. In der Hand hält er eine Plastiktüte. Er wirkt völlig unbeteiligt. Doch dieser Eindruck trügt. „Ja, ich warte auf die Lichterkette.“ Er öffnet die Tüte einen Spalt, so dass der Inhalt, eine rote Kerze, kurz zu sehen ist. „Sieht nicht dolle aus mit der Kette. Die sollte doch um 19.00 Uhr sein? Ist gar niemand da.“

Günther Langer und sein Sohn Dirk reihen auf einer kleinen Mauer am Straßenrand Teelichter auf. Noch sind sie im Umkreis von 200 Metern die Einzigen mit Kerzen auf der B 1 in Friedrichsfelde. „Das hab ich mir schon vorher überlegt. Damit es zumindest nach einer Kette aussieht.“ Herr Langer findet es wichtig, auf die Straße zu gehen. Auch wenn seiner Meinung nach der Krieg dadurch nicht mehr verhindert werden kann. „Der ist doch schon im Gange da unten, der Bush.“ Aber enttäuscht wäre er schon, wenn nicht noch mehr kämen.

An der Kreuzung Unter den Linden/Neustädtische Kirchstraße hat sich vor den Absperrgittern der US-Botschaft ein Pulk von etwa 100 Menschen gebildet. Sie sollen den Schriftzug „No War“ bilden und sich dazu entlang einem weiß-roten Absperrband aufreihen, doch einige stehen zu weit vom Band entfernt. Ein zotteliger Einpeitscher, ein Mann um die 50 Jahre mit langem Bart, steht mit einer UN-Flagge auf einem für Fotografen und Kamerateams aufgebauten vier Meter hohen Gerüst und versucht, die Menge zu dirigieren. „Stellt euch gerade an den Bändern lang, das sieht aus wie ein Ameisenhaufen“, brüllt er der Menge zu.

Vor den Absperrgittern der Botschaft steht unter dem Spruchband „Stop the war-lovers“ der Künstler Kurt Jotter auf einer Bühne. Er schimpft auf die Polizei, die kurzfristig eine Projektion seines „Peacekiller“-Plakats, auf dem Bush, Blair und Cheney in Uniformen posieren, an die Wand des Bürohauses des Deutschen Bundestages untersagt habe. „Das ist ein vorschneller Akt politischer Zensur“, erregt sich Jotter. Dann gilt seine Sorge wieder der Formation seines „No War“-Logos. „Von hier ist es schwer zu erkennen“, ruft er den Leuten vor der Bühne zu. „Hebt eure Kerzen über den Kopf.“ Auch das hilft nicht, der Schriftzug bleibt unkenntlich.

Immer mehr Friedensflaneure bleiben an der Ansammlung um die „No War“-Aktion stehen. Jotter fordert sie auf, weiterzuziehen, es stünden genügend Leute am Zeichen. „Wir müssen um acht Uhr die Kette schließen, geht bitte weiter in Richtung Brandenburger Tor.“

Alt-Friedrichsfelde Ecke Rhinstraße scheint für viele der Treffpunkt für eine Verabredung zur Lichterkette zu sein. Die Stimmung ist gut. Jörg ist mit seinen Freunden da. In der Schule hätten sie nichts von der Lichterkette erfahren, so Jörg. Die Organisation sei wirklich schlecht gewesen, ein paar Flugblätter von der PDS, sonst nichts. Aber heute Abend ist das allgemeine Einverständnis offensichtlich. Eine kleine Gruppe hat sich mit Wunderkerzen und Gitarren auf der Verkehrsinsel positioniert. In ihrer Mitte lodert ein kleines Lagerfeuer.

Die Preisfrage in Lichtenberg um kurz vor acht: Wird sich die Kette schließen? Ein kleiner bunter Laternenumzug macht sich auf, die Lücken zu füllen, die abseits der Treffpunkte, unter den Brücken, auf den Zufahrtsknoten und entlang des Tierparks noch klaffen. Nicht alle Anwohner sind hier von Lichterketten überzeugt. „Das hat doch keinen Sinn. Der Krieg findet so oder so statt.“ Die beiden Biesdorfer Hundebesitzerinnen sind sich einig. „Ich bin nur kurz mit dem Hund runter und froh, wenn ich wieder oben bin.“ Aber aus dem Fenster werde sie dann die Straße im Auge behalten. Ein wenig neugierig ist sie schon.

20.00 Uhr, auch in Lichtenberg ist es vollbracht. Auf der Frankfurter Allee hat sich eine fast geschlossene Kette gebildet, einige Eifrige versuchen die letzten Löcher zu stopfen, indem sie Kerzen aufstellen. Ernst und ohne Worte die einen, in kleinen geselligen Grüppchen mit Schnaps und auf Gartenklappstühlen die anderen, ergibt die Friedenskette ein buntes Bild. Von den angekündigten magischen fünf Gedenkminuten mit Glockengeläute ist in Lichtenberg allerdings nichts zu spüren. Ein wenig Ratlosigkeit macht sich breit. Und jetzt? Einige fragen, wie lange die Lichterkette denn geplant sei. Es ist kalt. Zögerlich brechen die ersten um Viertel nach acht nach Hause auf.

Weitaus ordentlicher erfolgt der Rückzug an der Ecke Unter den Linden/Friedrichstraße. „Wir bitten euch, die Straße wieder frei zu machen“, schallt es aus den Lautsprechern eines Kleintransporters der Gewerkschaft Ver.di. Außerdem verkündet die Frauenstimme die offizielle Teilnehmerzahl. „Es sind weit über 100.000. Die Kette war auf ganzer Länge geschlossen.“ Gleich neben dem Bus steht ein kleiner Mann mit Vollbart unscheinbar auf dem Mittelstreifen der Prachtstaße. Es ist Peter Kranz, Pfarrer der Luthergemeinde in Spandau. Die Kette war seine Idee. „Ich bin überwältigt“, sagt Kranz. „Es sind dreimal mehr Berliner gekommen, als ich erwartet habe.“ Besonders freue ihn, dass trotz des kurzen Vorlaufs von zwölf Tagen eine geschlossene Kette erreicht wurde. Ein junger Mann tritt auf ihn zu und drückt ihm einen 10-Euro-Schein in die Hand. „Von zwei Studenten für ihre Gemeinde“, sagt er und verschwindet wieder in der Menge.

Als die Reihe sich auflöst, beginnen einige Friedensfreunde mit Wachs ihre Kerzen auf den Bordstein zu kleben. Binnen Minuten ist die linke Seite der nördlichen Fahrspur zwischen Friedrichstraße und US-Botschaft hell erleuchtet. An der Ecke Wilhelmstraße stehen Teelichter und Kerzen in Gläsern mitten auf der Straße. Um 20.40 Uhr wird die Polizei aktiv. Mit Blaulicht fährt sie die Straße entlang und fordert die Demonstranten auf, wieder die Bürgersteige zu benutzen. Direkt hinter dem Mannschaftswagen fahren die ersten Autos an den Lichtern vorbei, ihr Luftzug löscht die meisten. Dann kommt ein Bus der Linie 100 und beendet endgültig die Mahnung zum Frieden. Mit lautem Knirschen fährt er die verbliebenen Kerzen und Gläser platt.