Der Mittelpunkt der Welt

Auf der Suche nach dem guten Amerika reiste Mark Hertsgaard sechs Monate lang um den Globus. Sein Essay „Im Schatten des Sternenbanners“ feiert die Stärken der USA mit enormem Engagement, seine Argumente überzeugen allerdings nicht

von DANIEL HAUFLER

Der amerikanische Journalist Mark Hertsgaard leidet an seinem Land: „In unserer Demokratie – man wagt das Wort kaum in den Mund zu nehmen – … (hat sich) legale Bestechung eingenistet. Unsere Medien entehren den heiligen Gedanken der Pressefreiheit. Unsere kostbaren Bürgerfreiheiten befinden sich im Belagerungszustand, unsere Wirtschaft teilt uns in Arme und Reiche, unsere typischen Aktivitäten sind Shopping und Fernsehen.“ Zudem bedrohe die US-Regierung mit ihrer Außenpolitik den Weltfrieden.

Wie konnte es nur so weit kommen, und was können „wir Amerikaner“ dagegen machen?, fragt sich Hertsgaard in seinem neuen Buch „Im Schatten des Sternenbanners. Amerika und der Rest der Welt.“ Antworten fand er auf einer sechsmonatigen Reise um die Welt, in Büchern, Zeitschriften und Zeitungen. Es kommen zu Wort: Malcolm Adams, Busfahrer aus Kapstadt, Thomas Jefferson, 3. Präsident der USA (1801–09), Herr Ma, Restaurantbesitzer in der chinesischen Provinz Shanxi, der Historiker Max Lerner, ein Barmann in Sizilien, Alexis de Tocqueville und noch einige andere.

Trotz seiner fatalen Schwächen scheint Amerika in der Welt beliebt zu sein, stellt Hertsgaard bei seinen Interviews fest. Menschen allerorten mögen den amerikanischen Lebensstil, bewundern Reichtum und Freiheit der Bürger, sind fasziniert von der Dynamik New Yorks. So sitzt Malcolm mit einer Baseballmütze am Steuer seines Busses in Kapstadt und sagt: „schönes Haus, großes Auto, ein Haufen Geld. Amerika ist für viele in Südafrika ein Idol“. Herrn Ma begeistert, dass man vor der Ehe durchaus mit mehreren Frauen schlafen kann: „Amerika ist das reichste Land und hat am meisten Spaß.“ Wenn er reich wäre, würde er es sofort besuchen – ohne seine Frau.

Miserabel informiert

Die Gesprächspartner verklären die USA zwar, aber sie unterscheiden bei ihren Beobachtungen sehr präzise zwischen „den Amerikanern“ und der Politik des Landes. Nur sie wird oft als arrogant und ignorant kritisiert. „Ihr tut, was gut für euch ist, und schert euch nicht um die anderen“, meint etwa ein ägyptischer Ingenieur. Oder ein südafrikanischer Apartheitsgegner erzählt, dass Bill Clinton einmal von Nelson Mandela gefordert habe, die Beziehungen zu Kuba zu beschränken. Dabei habe Kuba doch den Antiapartheidskampf unterstützt, nicht die USA.

Die Differenzierung zwischen „Amerika und Amerikanern“ („between the people and the power structure“ im Original), hält Hertsgaard in der Tat für angemessen. Die meisten seiner Mitbürger wüssten schließlich gar nicht, wie überheblich ihre Regierung sie im Ausland vertritt. Denn Bush und die Medien erinnerten zwar dauernd daran, dass Saddam Hussein böse sei. Mit keinem Wort würden jedoch die mindestens 350.000 irakischen Kinder erwähnt, die aufgrund des Embargos starben. Oder: Über den Nahostkonflikt werde immerhin viel berichtet, doch lediglich 32 Prozent der Amerikaner wäre bekannt, dass viel mehr Palästinenser als Israelis ums Leben kommen.

Heftig lamentiert Mark Hertsgaard über die Rolle der US-Massenmedien: „Kaum ein Ausländer macht sich … ein Bild davon, wie schlecht wir Amerikaner von unseren Medien … bedient werden.“ Das sei nach dem 11. September besonders deutlich geworden. In Europa hätten die Zeitungen mit viel Mitgefühl berichtet, und dennoch die Kriegsfrage kontrovers diskutiert. In den USA ließen sich die Kommentare der Medien nicht von der Selbstdarstellung der Regierung unterscheiden. Unglaublich sei der Auftritt des CBS-Moderators Dan Rather in der Letterman-Show gewesen, der wenige Tage nach dem Anschlag sagte: „Bush ist der Präsident … Wenn er wünscht, dass ich mich in Reih und Glied stelle, muss er mir nur sagen, wo.“

Der unkritischen „Hofberichterstattung“ widmet Hertsgaard konsequent ein eigenes Kapitel. Denn: „Der größte politische Witz in Amerika ist die Behauptung, wir hätten eine liberale Presse.“ Dieser Mythos stamme von Richard Nixon, der die „liberale Presse“ dafür verantwortlich machte, dass Vietnam verloren ging und dass der „kleine“ Watergate-Einbruch ihn zum Rücktritt zwang.

Unerwünschte Berichte

Die Presse melde meist doch nur unkritisch, was der Präsident oder seine Minister sagten. „Eigentlich dienen wir die meiste Zeit als Transmissionsriemen“, meinte dazu einmal James Reston, der langjährige Washington-Korrespondent der New York Times. In diesem Sinne berichtet die Presse brav, dass die USA in Afghanistan zivile Opfer vermeiden würden. Wie viele Unschuldige im Krieg getötet wurden, erfuhr die Öffentlichkeit bisher nicht. Solch eine Manipulation werden wir im Irakkrieg sicher wieder erleben.

Dabei ist die Presse weder staatlich noch gelenkt, aber in einem Maße staatsfreundlich, wie es für Europäer unvorstellbar ist. Oder, wie der berühmte New-Yorker-Reporter A. J. Liebling 1981 kapitalismuskritisch formulierte: „Die Freiheit der Presse ist nur denen garantiert, die eine besitzen.“ Diese Unternehmer sind meist konservativ und suchen sich Journalisten aus, die als „His Master’s Voice“ agieren. So sind die Berichte vieler Medien meist wirtschaftsfreundlicher, als es Ronald Reagan je war.

Es kommt hinzu, so Hertsgaard, dass auch in Amerika die Medienkonzentration voranschreitet. In den meisten Städten gebe es nur noch eine Monopolzeitung, über 50 Prozent des Medienmarktes würden von sechs Konzernen kontrolliert, Tendenz steigend. Die zudem enge Verflechtung mit der Politik führe dazu, dass zahlreiche „unerwünschte Berichte“ das Licht der Öffentlichkeit nie erblickten. So wurde auch kürzlich ein Text von Hertsgaard nicht gedruckt, der dem „Ölmann“ George W. Bush vorwarf, den Umweltschutz aufzuweichen.

Enttäuscht ist Hertsgaard auch über den hemmungslosen Konsumismus der Amerikaner, ihre Unfähigkeit, miteinander zu kommunizieren und sich demokratisch zu engagieren. Das alles ist sicher richtig. Und deshalb dürfte „der Rest der Welt“ Amerika sicher nicht lieben. Wenn viele Menschen, wie er schreibt, es trotzdem tun – liegt das nur am Reichtum und Glamour, den Fernsehen, Filme und Werbung weltweit verbreiten?

Darauf findet Hertsgaard keine überzeugende Antwort, zumal er die Frage im Laufe des Essays zunehmend aus den Augen verliert – und überhaupt nicht besonders geradlinig argumentiert. Eigentlich will er, so scheint es, vor allem seine Landsleute von den einzigartigen Vorzügen der amerikanischen Demokratie überzeugen, ja sie zu einer „Revolution der Werte und Denkweisen“ aufrufen.

Nur: Stimmt seine Idee überhaupt, dass die Amerikaner sich anders verhalten würden, mehr Engagement wagten, wenn sie besser informiert wären? Immerhin existieren auch jetzt einige seriöse Zeitungen wie die New York Times und ein kleines, unabhängiges öffentlich-rechtliches Radio- und Fernsehnetz. Schon jetzt könnte jeder Amerikaner kritische Bücher kaufen und das Internet nutzen, in dem gerade die Friedensbewegung ihre Informationen verbreitet. Genau diese Quellen hat ja auch Hertsgaard verwendet.

Tatsache ist doch: Die meisten Amerikaner interessieren sich für den „Rest der Welt“ nicht. Sie sind genau wie ihre Medien eher konservativ und haben genug mit Arbeit, Familie, Alltag zu tun. Sie wählen, wie die Deutschen, eine Regierung, wenn sie verspricht, dass es den Menschen besser geht – und nicht, weil sie besonders schön Krieg führt oder hoch moralisch ist. Das wird auch Bush noch merken.

Dennoch liest man Hertsgaards Buch gern, weil es zeigt: Das liberale Amerika lebt noch. Immer mehr Journalisten wie er setzen sich für Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität ein – im eigenen Land und international. Sein Essay ist geradezu ein Zeugnis aus der Zeit des guten, alten Amerikas, als Frederick Douglass im 19. Jahrhundert für die Abschaffung der Sklaverei kämpfte, oder Martin Luther King 100 Jahre später glaubte, dass „der Bogen der Geschichte lang ist, aber sich zur Gerechtigkeit neigt“, oder die Bürgerrechtsbewegung letztlich das Ende des Vietnamkrieges herbeiprotestierte.

Leider kann man Hertsgaards Optimismus nicht teilen – besonders heute nicht, am Vorabend eines völker- und menschenrechtswidrigen Krieges, den das konservative Establishment der USA nun mit aller Macht durchgesetzt hat. Dagegen kommen ein paar liberale Amerikaner nicht an.

Mark Hertsgaard: „Im Schatten des Sternenbanners. Amerika und der Rest der Welt“. Aus dem Amerikanischen von Friedrich Griese, 356 Seiten, Carl Hanser Verlag, München 2003, 19,90 €