Im Teilchenzoo

Gepflegte Beziehungslosigkeit: Tilman Rammstedt beobachtet in „Erledigungen vor der Feier“ die Soziotope der Gegenwart

In der Quizshow „Eins, zwei oder drei“ hopsten in den Achtzigern Kinder zwischen drei Leuchtfeldern hin und her. „Ob du Recht hast oder nicht, sagt dir gleich das Licht“, echote die Stimme des Moderators. Dann klingelte es, und die Kinder auf den falschen Feldern standen im Dunkeln. Im richtigen Leben ist das natürlich nicht so einfach. Man hopst zwar ebenso zwischen verschiedenen Möglichkeiten hin und her. Nur: Klingeln tut es nie. Also bleibt man am besten in Bewegung.

Der Berliner Autor Tilman Rammstedt stößt mit seinem Erzähldebüt „Erledigungen vor der Feier“ den Finger tief in diese offene Wunde moderner Existenz. In 21 knappen Prosa-Skizzen zoomt sich der 1975 geborene Schriftsteller ein auf das prekäre Leben im Sowohl-als-auch. „Niemanden schien es zu interessieren, ob und wie und wann Dinge oder Menschen zusammentrafen“: Die im Zentrum des Bandes stehende Beziehungkiste zwischen dem Erzähler und einer Frau namens L. ist dann auch tatsächlich eine äußerst diffuse Nebelkammer. Wenn das Paar zusammentrifft, dann „nur örtlich und zeitlich, ohne damit viel anfangen zu können“. Beide bemühen sich, Dinge zu tun, die ein Liebespaar tun würde, doch wirklich eins sein möchten sie auf keinen Fall, „weil es dann so gezwungen aussähe“.

Als der Erzähler und L. eines Tages eher zufällig „aufhören, nicht miteinander zu schlafen“, haben sie sofort das Gefühl, irgendwie aus der Rolle zu fallen. Schnell kehren beide in die alte Unverbindlichkeit zurück: „Gut waren wir im Kaffeetrinken, gut waren wir im Musikaussuchen fürs Frühstück, gut waren wir im gemeinsamen Zähneputzen. Das hatten wir trainiert. Da waren wir ein eingespieltes Team.“

Auch Rammstedt hat trainiert. Er ist regelmäßiger Gast der Berliner Lesebühne „Visch & Ferse“ und bekennendes Mitglied der Weltschmerz-Combo Fön. Es gehört zur besonderen Qualität seiner Texte, dass sie in der Auseinandersetzung mit einem konkreten Publikum entstanden sind. Der Rammstedt-Sound verfällt weder in den hohen und zugleich flachen Ton der Popliteraten, noch nervt er durch deren autobiografischen Ego-Kitsch. Man könnte fast sagen: Rammstedt schreibt literarisch.

Das zeigt sich inhaltlich besonders an L., um die die Worte des Erzählers unablässig kreisen. Als Rammstedt vor zwei Jahren mit seiner Geschichte „Ausflug mit L.“ den Open Mike der Pankower Literaturwerkstatt gewann, war die Protagonistin plötzlich Stadtgespräch. Jeder wollte wissen, wer sich denn nun dahinter verberge.

Der Autor gab damals zu, das wisse er eigentlich auch nicht. In der Tat ist die Unverbindlichkeit das Einzige, was sich verbindlich über sie sagen ließe. Der Erzähler ist da nicht viel weiter: Auf dem einzigen Foto, das er von ihr besitzt, so liest man, erscheint L. nur am Rande als schemenhafte Spiegelung auf einer Fensterscheibe: „Man muss wissen, dass es sich dabei nur um L. handeln kann, um sie darauf zu erkennen, doch ich weiß das, und deshalb erkenne ich sie.“ Ebenso vage bleibt die Vorgeschichte dieser Beziehung. Schon über den Ablauf des ersten Zusammentreffens vertreten die beiden konträre Versionen. Sie nehmen’s gelassen: „Wir haben uns in zwei kleinen Paralleluniversen eingerichtet, und gegen Paralleluniversen, auch gegen kleine, ist man machtlos.“

Rammstedt macht sich als kühler Beobachter solcher menschlichen Soziotope nicht nur die Unschärferelation aus der Welt der Elementarteilchen zu Eigen. Die Spielregeln des gesellschaftlichen Teilchenzoos werden von ihm auch am laufenden Band experimentell überprüft. Die Erzählung „Neutronen“ schildert ein skurriles „Molekülspiel“, das im Rahmen einer Geburtstagsparty stattfindet: „Die Spielfläche wurde vage begrenzt, auf ihr galt es, wild durcheinander zu rennen, sich hin und wieder zu kleinen Klumpen zusammenzuschließen, die Atome darstellen sollten, ein Molekül, jedoch sofort wieder auseinander zu springen, sobald der Klumpen zu groß wurde.“ Nach wenigen Runden liegen die Mitspieler erschöpft am Boden, mit verknoteten Körpern, doch gleichzeitig merkwürdig beziehungslos.

Das ist sicher kein Zufall. Die „kräfteraubende Unverbindlichkeit“, mit der im literarischen Paralleluniversum von „Erledigungen vor der Feier“ das Problem des sozialen Entweder-oder bewältigt wird, hat nämlich einen klassischen Haken, den der Erzähler auch nicht verschweigt: „Das Dumme ist, dass Lösungen einen nur immer an das Problem erinnern.“

ANSGAR WARNER

Tilman Rammstedt: „Erledigungen vor der Feier“. DuMont, Köln 2003, 120 S., 14,90 €