Das alte Europa und die Tragödie

Am Deutschen Theater in Berlin versucht Stefan Kimmig vergeblich, mit Schnitzler in der Gegenwart anzukommen

Ähnlichkeiten mit der Wirklichkeit waren wohl weder zufällig noch unbeabsichtigt: Etwa ein Dutzend junger und nicht mehr ganz junger Menschen feiert. Man ist wohlhabend und kunstsinnig, auch ein paar Künstler sind unter den Gästen. Kurz: eine Gesellschaft, in der sich das alte Europa gern wiedererkennt.

Im Hintergrund droht eine Bankenkrise und, noch viel schlimmer, ein Krieg. Im Vordergrund sind die Menschen trotzdem mit diffusen Sehnsüchten und Liebeleien beschäftigt. Sie ahnen die Bedrohung, aber verhalten sich nicht dazu. Am Ende, wenn der Krieg längst ausgebrochen ist, hat es diese seltsam gelähmte Wiener Gesellschaft an einen dänischen Strand verschlagen, der ein bisschen an die Küste Illyriens und das glückliche Ende in Shakespeares „Was Ihr wollt“ erinnert. Bei Schnitzler endet die Geschichte tragisch.

Bei Stefan Kimmig, der sie jetzt am Berliner Deutschen Theater inszenierte, kommt sie gar nicht in Gang. Eine enorme Bühne von Kanzleramtsdimensionen (Katja Haß) dreht sich immer wieder zu beunruhigenden Klängen langsam um sich selbst: eine Drohkulisse, die beständig die Ankunft eines Dramas verspricht. Dann irren gelegentlich winzige Menschen durch die Weite des Raums, der sich auf der einen Bühnenseite öffnet, spielen kleine Szenen. Oder wir sehen sie vor riesigen, grauen Wänden über die Liebe und das Leben sprechen. Die Grundstimmung ist ziemlich elegisch. Ein Drama findet trotzdem nicht statt.

Die Handlung ist lose um einen Verführungs- und Liebesreigen geknüpft. Alle lieben notorisch immer bloß die, von denen sie nicht wiedergeliebt werden. Für Schnitzler, der in dieses letzte (und nicht unbedingt beste) Drama die Weisheit seines ganzen Lebens verstauen wollte, eine klare Alternative zu Beziehungsöde: Leidenschaft lodert nur so lange, wie sie keine Erfüllung findet, heißt eine gelegentlich an der Schmerzgrenze zum Kitsch vorgeführte Moral der verwickelten Geschichte, der Stefan Kimmig leider ziemlich distanzlos verfallen ist.

Aurelie liebt erst Falkenir, der seinem Glück misstraut und dankend ablehnt. Dann liebt sie Max, den Sohn des Mannes, der schon ihre Mutter verführte. Der wiederum will Judith, die ihrerseits mit ihm nicht mehr als vierundzwanzig Stunden verbringen will und am Ende die Yacht eines reichen Prinzen besteigt, der eigentlich Aurelie liebt. Ein dröger Staatsanwalt liebt die scharfe Gattin des jungen Bankiers. So geht es weiter, und sensible Seelen wie Aurelie lassen bei so viel sinnlos verpulverter emotionaler Energie natürlich Federn. Am Ende finden Aurelie und Falkenir zueinander – allerdings im Tod.

So heutig, wie sie uns entgegenkommen und auch Anja Rabes die Figuren eingekleidet hat, sollen wir Zuschauer uns in ihnen wiederfinden. In all den Gestalten, die, statt das Leben selbst, bloß die Vorstellung davon lieben. Aber sie kommen uns nicht einmal nah. Kimmig will uns ein emotionales Schlachtengemälde als Spiegel vorhalten. Fast vier Stunden wabert die Aufführung im Bedeutungsspielraum zwischen Drama und Wirklichkeit, sonnt sich in den Ähnlichkeiten zwischen Schnitzlers und unserer Kriegs- und Vorkriegszeit. Konkret wird es nie. Erst gegen Ende, als sich die Illusion noch mal machtvoll gegen die hereinbrechende Wirklichkeit stemmt und die Figuren begreifen, dass sie dagegen kaum eine Chance haben, entsteht das Bild einer Übergangsgesellschaft ohne Bewusstsein von sich selbst. Doch da hat man schon zu lange gelitten am bedeutungsschwangeren Getue dieser Inszenierung.

Was bleibt, ist, die Schauspieler zu loben: den durch den Abend irrlichternden coolen Helden Max (Maximilian von Pufendorf), Depress-Diva Judith Engel und ihr nölend-melancholischer Dauerton, der verknarzte Gutmensch Falkenir (Jörg Gudzuhn), Prinz Arduin (Timo Dierkes), dessen zarte Seele in einem viel zu großen Körper steckt, und sein Antagonist, der Schriftsteller Doehl, (Ulrich Matthes) wiederum an psychischer und physischer Unterernährung zu leiden scheint. Elisabeth Trissenaar, die gelegentlich Qualitäten einer mitteleuropäischen Joan Collins entfaltet. Doch sie alle bleiben wie hinter Glas. Dabei hätten wir gern mehr von ihnen gesehen. ESTHER SLEVOGT