Weil vernichten nur beenden heißen soll

Er wurde 1976 erschossen, als er Selbstschussapparate an der DDR-Grenze abmontierte: Heute ergeht im Fall Michael Gartenschläger ein Urteil

„Ich führte nur Befehle aus“, heißt es, „war nicht geistiger Vater des Plans“

von KIRSTEN KÜPPERS

Der Mann sitzt auf dem Stuhl, er will sich nicht erinnern. „Es kann sein, dass auf den Papieren etwas vom Durchladen einer Waffe stand“, sagt er. „Ich weiß nicht mehr genau. Die Tische lagen alle voll mit irgendwelchen Akten, ein heilloses Durcheinander! Die Dokumente mussten in andere Räume geschafft werden, Türen wurden versiegelt. Es wurde eine allgemeine Aktenvernichtung durchgeführt – was glauben Sie denn?“, fragt der Mann den Richter. Die Stimme ist laut geworden. Vom Trotz.

Der Mann ist der letzte Zeuge, der in diesem Prozess gehört wird, und auch wenn jeder seiner Sätze in einer ungenauen Verweigerungshaltung endet, vermitteln sie zusammengenommen immerhin etwas von der hektischen Betriebsamkeit, die damals geherrscht haben muss, im Herbst 1989 in der Ostberliner Normannenstraße. Als die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) schon wussten, dass jetzt eine neue Zeit anbricht. Eine Zukunft, in der es noch einmal wichtig werden könnte, ob eine Akte gefunden wird, auf der der Name „Gartenschläger“ steht und gleich dahinter die Rede ist vom Durchladen einer Waffe.

Heute wird am Berliner Landgericht im Fall Gartenschläger ein Urteil gesprochen. Es ist einer der letzten großen Prozesse um Todeschüsse an der innerdeutschen Grenze. Angeklagt sind die beiden ehemaligen Stasi-Offiziere Wolfgang S. und Helmut H. Sie sollen für jenen Plan verantwortlich sein, der zur Folge hatte, dass der Regimegegner Michael Gartenschläger vor 27 Jahren am Grenzzaun zwischen Schleswig-Holstein und Mecklenburg getötet wurde.

Wolfgang S. und Helmut H. haben nicht selbst auf den jungen Mann geschossen, sie waren nicht einmal persönlich anwesend. Sie waren nicht da in jener Nacht zum 1. Mai 1976, als Michael Gartenschläger sich an einer dunklen Stelle im Landkreis Hagenow am DDR-Zaun zu schaffen machte. Sie sollen nur den Befehl erteilt haben, sie sollen Schreibtischtäter gewesen sein. Ein Oberstleutnant der Stasi und sein Vorgesetzter. Sie waren Mächtige in der DDR.

Michael Gartenschläger war einer, der diese Macht störte. Es sieht so aus, als sei er dem Regime sogar richtig auf die Nerven gefallen. Jahrelang.

Es fing damit an, dass Gartenschläger als Teenager Parolen gegen den Mauerbau an Häuserwände malte. Ein Gericht in Frankfurt/Oder verurteilte ihn dafür zu lebenslanger Haft. Fast zehn Jahre saß Gartenschläger im Gefängnis, dann kaufte ihn die Bundesrepublik frei. Seither lebte Gartenschläger im Westen, von hier aus betätigte er sich als Fluchthelfer.

Eine Aufgabe, die ihm nicht groß genug war. In der verhängnisvollen Nacht zum 1. Mai 1976 hatte Gartenschläger sich mit einer Leiter und mit Werkzeug aufgemacht, um eine Selbstschussanlage an der Grenze zu demontieren.

Dies war ihm bereits vorher zweimal gelungen und hatte ihm neben einer Veröffentlichung im Magazin Der Spiegel und einem Honorar über 12.000 Mark auch weltweites Aufsehen eingebracht. Die DDR hatte lange bestritten, Selbstschusssplitterminen aufgestellt zu haben.

„Gartenschläger hat die DDR blamiert“, sagt ein Zeuge nun in der Verhandlung. Der ehemalige Stasi-Chef Erich Mielke habe die Festnahme Gartenschlägers verlangt, meint der Staatsanwalt. Die Angeklagten hätten an einem Maßnahmenplan mitgearbeitet, ihn „festnehmen beziehungsweise vernichten“ zu lassen.

Diese Worte finden sich im sichergestellten Stasi-Papier. Als der 32-jährige Gartenschläger bereits von Kugeln getroffen am Boden lag, sei weitergeschossen worden, so die Anklage. Sie wirft den beiden früheren Stasi-Offizieren gemeinschaftlichen Totschlag in mittelbarer Täterschaft vor.

Wenn sich die Machtverhältnisse ändern in einem Land, kann trotzdem viel übrig bleiben von alter Freundschaft. Im Gerichtssaal halten sie jetzt zusammen, die Kollegen von damals. Manche sagen als Zeugen aus, geben sich vor den Richter wortkarg und böse. Viele sitzen auf der Zuschauerbank, ein voreingenommenes Publikum. Allesamt ältere Männer, jeder Mund ist ein Strich. Auch die angeklagten Genossen weichen nicht ab vom einmal eingeschlagenen Weg.

Damals hat ihre Führung die Aktion mit militärischen Orden, einem Sektempfang und 10.000 Ostmark belohnt. Jetzt weisen Wolfgang S. und Helmut H. die Verantwortlichkeit für den Mord an Michael Gartenschläger weit von sich. „Ich habe nur Befehle ausgeführt“, sagt der 61-jährige H., „Ich war nicht der geistige Vater des Plans“, erklärt S. „Vernichten ist ein Wort aus der Militärsprache“, fügt er hinzu, „es heißt nicht Töten.“

Es mag an der Besonderheit der historisch-politischen Situation liegen, dass es so kommen musste. Dass die Verhandlung von Anfang an entlang einer mühseligen Rechthaberei über einen eigentlich eindeutigen Begriff schlingerte. Militärlexika wurden im Prozess hervorgezogen, entlegene Zitate bemüht. „Vernichten heißt nur die Beendigung eines Vorgangs“, sagt ein ehemaliger Kollege der Angeklagten aus.

Und wie einer der Rechtsanwälte mit schnarrender Stimme und rotem Kopf dasteht und sein Plädoyer vorträgt. Wie er noch einmal den halsbrecherischen Satz wiederholt: „Es ist eine blanke Erfindung, dass Vernichtung gleich Töten bedeutet.“ Wie er der Staatsanwaltschaft auch noch die Manipulation sämtlicher Vorgänge der Anklage vorwirft – nach all dem scheint es, als kämpfe hier einer nicht nur für den Freispruch seines Mandanten, sondern für eine unbestimmte Ehrenrettung von weit größerem Ausmaß.

Vielleicht blieb der Staatsanwalt auch deshalb im Jargon. „Feigheit vor dem Klassenfeind“ warf er den beiden früheren Stasi-Offizieren am vergangenen Dienstag vor und verlangte dreieinhalb Jahre Haft. Es wird sich zeigen, ob das Gericht dieser Forderung nachkommt. Drei der Soldaten, die damals auf Gartenschläger schossen, standen schon im Frühjahr 2000 in Schwerin wegen versuchten Mordes vor Gericht.

Sie wurden freigesprochen, da die Kammer nicht ausschließen konnte, dass die neun Schüsse, die Gartenschläger trafen, in Notwehr abgegeben wurden. Auch die Berliner Verhandlung konnte diese Frage nach elf Prozesstagen und der Befragung von 20 Zeugen nicht eindeutig beantworten. Die Angeklagten Wolfgang S. und Helmut H. bleiben dabei: „Er wurde erschossen, weil er zuerst schoss.“

Es gibt eine Schwester von Michael Gartenschläger. Den Tod ihres Bruders hat sie nie verwunden, heißt es. Still und gefasst sitzt die 65-Jährige jetzt im Gerichtssaal. Nur einmal sagt sie leise: „Mein Bruder hatte keine Chance.“ Heute wird der Richter das Urteil verkünden. Die alten Männer auf den Zuschauerbänken wissen es jetzt schon besser.